Die geopolitischen Verwerfungen um die Ukraine sind auch Ergebnis einer fossilen Energieabhängigkeit der EU und des fehlenden Ausbaus der Erneuerbaren Energien (aufgrund der aktuellen Ereignisse wurde dieser Beitrag am 24.02. aktualisiert)

Die geopolitischen Verwerfungen um die Ukraine sind auch Ergebnis einer fossilen Energieabhängigkeit der EU und des fehlenden Ausbaus der Erneuerbaren Energien

 

Liebe Leserinnen und Leser,

der russische Angriff auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig und durch nichts gerechtfertigt. Russland muss sich sofort zurückziehen.

Seit Jahrzehnten wird davor gewarnt, dass die starke Energieimportabhängigkeit der Industrienationen wie Deutschland im fossilen und atomaren Sektor starke sicherheitspolitische Gefahren birgt. Heute beobachten wir eine massive Zunahme dieser geopolitischen Verwerfungen und sogar eine steigende Kriegsgefahr als Folge starker Energieabhängigkeiten.

Die fehlende Umstellung auf heimische Erneuerbare Energien, insbesondere im letzten Jahrzehnt unter der Kanzlerschaft Merkel, war schon eine der Hauptursachen davon, dass die EU und Deutschland keine ausreichenden politischen Mittel in der Hand haben, um der russischen Kriegsbedrohung durch den Aufmarsch von über 130.000 russischen Soldaten an der ukrainischen Grenze etwas Substanzielles entgegenzusetzen.

Der völkerrechtswidrige militärische Angriff Russlands auf die Ukraine konnte auch deswegen nicht verhindert werden, da Russland mit der immensen Energieabhängigkeit der EU in einer starken Machtposition ist. Nun rächt sich, dass die EU und Deutschland im letzten Jahrzehnt auf Druck der Erdgas- und Erdöllobby weiter auf fossile Energien statt auf heimische Erneuerbare Energien gesetzt hat.

Die massive Abhängigkeit der EU von Energierohstofflieferungen aus Russland hat zu großer politischer Ohnmacht im Konflikt um die Ukraine geführt. Schon die Anerkennung der Regionen Donezk und Luhansk als unabhängig konnte vom Westen nicht verhindert werden, weil der Westen immer weiter Energie kaufte, im letzten halben Jahr sogar mit deutlich höheren Einnahmen für die Kriegskasse Russlands. Ca. 70 % der russischen Staatseinnahmen kommen aus den Energiegeschäften mit Erdöl, Erdgas, Kohle und atomaren Brennelementen.

Russland konnte so erhebliche Reichtümer mit den Einnahmen aus Erdöl, Erdgas, Kohle und Atomtechniken anhäufen, die die gewaltige Aufrüstung Russlands erst ermöglicht haben. Gleichzeitig hat diese selbst geschaffene Energieabhängigkeit der EU dazu geführt, dass diese nicht auf die russischen Energielieferungen verzichten zu können glaubt. Zur Sicherung der Energieversorgung konnte die EU keine Sanktionsandrohungen ankündigen, geschweige denn ausführen. Es ist sicher kein Zufall, dass die Eskalation der Gewalt gegen die Ukraine genau in dem Moment kommt, wo die EU-Wirtschaft wegen hohen fossilen Energiepreisen schon massiv in der Krise ist.

Als Reaktion auf die Anerkennung der Ostukrainischen Regionen  haben die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sowie die deutsche Regierung Sanktionen angekündigt. Sie waren in den Wochen davor sehr nebulös geblieben, was befürchten ließ, dass sie ähnlich schwach und wirkungslos bleiben werden, wie die EU und US-Sanktionen nach der Okkupation der Krim. Mit dem Angriff Russlands  sieht man nun, dass Russland die Sanktionen kaum ernst nimmt. Einzig die Ankündigung von Kanzler Scholz, die Erdgaspipeline Nord Stream 2 vorerst nicht zu zertifizieren, ist ein längst überfälliger Schritt. Da zeigt sich, dass seine im Koalitionsvertrag noch durchgesetzte Erdgaspolitik von vornherein falsch war und genau die darin steckenden geopolitischen Gefahren missachtete.

Präsident Putin weiß ganz genau, dass Deutschland und die EU die entscheidenden Staatseinnahmen Russlands kurzfristig und auch mittelfristig nicht nennenswert gefährden kann. Ein Importstopp von russischem Erdgas, Erdöl, Steinkohle und Brennelementen würden in der EU zu einer weit über die heutige Energiepreissteigerung hinausgehenden ökonomischen Belastung führen. Ein Zusammenbruch der Wirtschaft wegen fehlender oder zu teurer Energierohstoffe, Aufstände der Bevölkerung wegen kalten Wohnungen und fehlendem Sprit für Autos und LKW, Nahrungsmittelengpässe und teure Lebensmittel durch fehlende oder zu teure Düngemittel, Pestizide, Transportenergie wären die schnelle Folge.

Bei einem Ölpreis von knapp unter 100 US-Dollar pro Barrel stufen schon heute 23% der deutschen Unternehmen die aktuellen Energiepriese als existenzbedrohend ein, 65% sprechen von einer „starken Herausforderung“. Noch immer sehen viele Medien und Unternehmen Steuern und Abgaben als hauptsächliche Ursache der Energiepreissteigerungen. Dabei sind die Hauptursachen die seit Mitte 2021 stark gestiegenen Preise von Erdgas (+60%), Erdöl (+43%) und Steinkohle (+180%), die die Energiepreise trotz stark gesunkener Solar- und Windenergiekosten in die Höhe treiben.

Die meisten dieser nun massiv unter Druck stehenden Unternehmen, von BASF bis hin zu Erdgasversorgern, haben eine große Mitschuld an ihrer eigenen Not. Sie waren es, die jahrzehntelang gegen den Ausbau der Erneuerbare Energien lobbyiert und so die politische Unterstützung für Erneuerbare Energien behindert, sowie in den eigenen Konzernen keine ausreichenden Erneuerbare Energien Investitionen geschaffen haben. Alle Warnungen, dass dies in eine schlimme Abhängigkeit mit rasanten Preissteigerungen führen kann, haben sie in den Wind geschlagen und stehen nun vor dem selbst erzeugten Scherbenhaufen.

Die Rohstoffpreissteigerungen haben viele Ursachen, von Spekulationen über die aktuellen geopolitischen Spannungen, Kriege, Unfälle und Terrorangriffe, aber insbesondere einen physischen Rückgang von Förderungen in wichtigen Förderregionen, insbesondere der OPEC. Insgesamt kann die Förderung der fossilen Rohstoffe insbesondere beim Erdöl die Nachfrage zunehmend nicht mehr stillen. Weitere Preissteigerungen sind zu erwarten. So hat der Ölpreis am Tage des russischen Angriffs auf die Ukraine die 100 US-Dollar Marke pro Barrel sprunghaft überschritten.

Fieberhaft suchen nun die Energieimportländer  nach Diversifizierungen zum russischen Bezug, aber dadurch wird die Gesamtfördermenge nicht zu steigern sein. Die Knappheit im Markt wird weiter zunehmen und mit ihr die Rohstoffpreissteigerung. Diese haben in allen Sektoren die Energiepreise nach oben getrieben: Stromerzeugung, Verkehr, Heizungen, Industrie. Der unerwartete störbedingte Stillstand von einem Drittel der französischen Atomkraftwerke hat die Strompreise in der EU zusätzlich belastet, was zeigt, dass auch die Atomenergie keinen Beitrag zur Kostensenkung der Strompreise beitragen kann.

Nun steckt die EU also in einem kurzfristig nicht aufzulösenden Dilemma: Die Suche nach wirksamen Sanktionen, die Russland ernsthaft treffen, scheint nicht zu gelingen. Im einzigen die russische Wirtschaft empfindlich treffenden Wirtschaftszweig, dem Energiesektor, kann die EU aber keine starken Sanktionen erlassen, da sie dann selbst wegen der starken Energieabhängigkeit in größte wirtschaftliche Nöte und Volksaufstände kommen würde, was die oben erwähnte jüngste Umfrage zu den Existenzängsten der Unternehmen zeigt.

Damit kann die EU keine den russischen Staat ernsthaft treffenden Sanktionen beschließen. Somit ist es kein Wunder, dass alle EU-Rhetorik von „wirksamen und die russische Wirtschaft stark belastenden“ Wirtschaftssanktionen in Russland wenig ernst genommen wurden.

Der Ukrainische Botschafter Melynk hatte es vor wenigen Tagen klar angesprochen: Er forderte unter anderem ein Embargo Deutschlands und der EU für Erdgas, Erdöl und Kohleexporte sowie das Ende der Gaspipeline Nord Stream 2, womit er im Prinzip Recht hat, denn nur so wird Russland tatsächlich in seiner wirtschaftlichen Macht ernsthaft getroffen.

Dass dies von der Regierung in Berlin nicht aufgegriffen wird, liegt auf der Hand: Sie kann es nicht, denn die Konsequenz wäre das Zusammenbrechen der deutschen Wirtschaft. In der erforderlich kurzen Zeit kann die dann fehlende Energielieferung aus Russland nicht von anderen Energielieferanten aufgefangen werden – auch zukünftig wird dies wegen der Verknappungstendenzen auf den Weltmärkten nicht möglich sein. Denn wer soll die großen russischen Energielieferungen in die EU kurz- oder mittelfristig ersetzen? Die wenigen im Gespräch befindlichen Lieferländer wie USA, Australien, Zentralasien, Nordafrika oder Naher Osten werden den Ersatz nicht in wenigen Jahren und schon gar nicht für den nächsten Winter organisieren können. Zudem sind viele dieser Länder von Unrechtsregimen beherrscht, was die nächsten geopolitischen Verwerfungen vorausahnen lässt.

Die in den letzten Monaten erheblich gestiegenen fossilen Energiepreise sind das Ergebnis einer Verknappung von fossiler Energie auf dem Weltmarkt. Die Nachfrage übersteigt das Angebot. Wo sollten also die in der EU aus einem Energie-Embargo gegen Russland dann fehlenden Mengen an Erdöl, Erdgas und Kohle herkommen, wenn sie aktuell schon nicht zur Deckung der globalen fossilen Energienachfrage ausreichen?

Sollte die EU dennoch ein Embargo verhängen, würde sie sich also ins eigene Fleisch schneiden. Russland könnte sich zurücklehnen, auf die Wirtschaftszusammenbrüche und sozialen Aufstände in der EU warten und dann seine Bedingungen mit erneuten Energielieferungen diktieren. Immerhin hat Russland eine hunderte Milliarden schwere finanzielle Rücklage mit den Einnahmen aus den Energieverkäufen angehäuft. 

Das umgekehrte Szenario ist, dass Russland selbst jetzt im Krieg die vertraglichen Lieferverpflichtungen ignorieren und eigenmächtig die Öl- und Gashähne zudrehen könnte. Die Ohnmacht der EU käme dann sehr schnell ans Tageslicht.

Die selbstgeschaffene Abhängigkeit Deutschlands und der EU ist ein Resultat des viel zu schwachen Ausbaus der Erneuerbare Energien. Solarstrahlung und Wind müssen als heimische Energie eben nicht importiert werden, weder aus Russland noch anderen Ländern. Ein steiler Ausbau der Erneuerbaren Energien im letzten Jahrzehnt, statt des politisch verordneten massiven Rückgangs, hätte die EU aus der Abhängigkeit und Ohnmacht gegenüber Lieferländern wie Russland herausführen können.

Genau das hatten nach der Okkupation der Krim die G7 Energieminister*innen gefordert, eben um mehr Energieunabhängigkeit von Russland zu bekommen. Geschehen ist es nicht. Im Gegenteil, der jährliche Ausbau der Erneuerbaren Energien ist seitdem in Deutschland und der EU – politisch verordnet z.B. mit den EEG-Novellen – immer mehr eingebrochen. Genau das führte nun zur heutigen geopolitischen Machtlosigkeit der EU angesichts der militärischen Drohungen Russlands gegenüber der Ukraine.

Übrigens ist die forsche Energie-Embargoforderung des Ukrainischen Botschafters auch im Lichte der eigenen Ohnmacht seines Landes zu bewerten. Noch immer bezieht die Ukraine große Energiemengen aus Russland: Strom über den Leitungsverbund mit Russland und Belarus, Erdöl und Kohle werden ebenso aus Russland in die Ukraine geliefert, genauso wie der größte Teil der Brennelemente für die Ukrainischen Atommeiler. Noch immer besteht die Ukraine auf der Durchleitung von russischem Erdgas in die EU, da sie die Milliarden aus den Durchleitungsgebühren wünscht und übersieht, dass sie so selbst die Finanzierungen des russischen Staatshaushaltes befördert, womit der dann die militärische Bedrohung und Aktivitäten gegen die Ukraine finanziert. Es ist bezeichnend, dass der ukrainische Botschafter zwar das Ende von Nord Stream 2 forderte, aber eben nicht das Ende der Durchleitung von russischem Erdgas auf ukrainischem Boden.

Seit über einem Jahrzehnt habe ich in Kiew in Ministergesprächen und Anhörungen im ukrainischen Parlament darauf hingewiesen, dass die Ukraine, solange sie noch große Mengen Energie aus Russland bezieht, politisch komplett ohnmächtig gegenüber den russischen Aggressionen ist. Ein steiler Ausbau der Erneuerbaren Energien in der Ukraine wäre also im letzten Jahrzehnt die entscheidende Strategie gewesen, mehr politische Unabhängigkeit von Russland zu gewinnen. Doch geschehen ist das nicht. Noch immer liegt der Anteil erneuerbarer Energien in der ukrainischen Energieversorgung deutlich unter 10%. Die ukrainische Ohnmacht gegenüber Russland ist zum Teil also ebenfalls selbst verschuldet.

Dabei wird seit über einem Jahrzehnt vielfach vor geopolitischen Verwerfungen bis hin zu Kriegen infolge von fossilen Energieabhängigkeiten gewarnt und eine schnelle Umstellung auf heimische Erneuerbare Energien gefordert:

In meiner Bundestagsrede am 11.2.2011 zum EU-Energiegipfel stellte ich fest:

„Unter der Dominanz der schwarz-gelben deutschen Regierung wurde verpasst, den dringend erforderlichen Transformationsprozess hin zu einer Vollversorgung mit Erneuerbaren Energien unter Ausschöpfung der großen Energieeinsparpotentiale auf den Weg zu bringen. Europa droht zu über 70% von Energierohstoffimporten aus zunehmend unsicheren Lieferländern abhängig zu werden. Statt endlich die Erschließung der unerschöpflichen und kostenlosen heimischen Energieressourcen aus Solarstrahlung, Wind, Wasserkraft, und Erdwärme in den Mittelpunkt zu stellen, setzt der EU-Gipfel mit neuen Pipelines und Terminals auf die Erhöhung der Importabhängigkeit aus politisch instabilen Lieferländern.“

Auch das Transformationszentrum der deutschen Bundeswehr hatte in seiner Peak Oil Studie aus dem Jahre 2010 stark vor gravierenden sicherheitspolitischen Gefahren gewarnt, die mit einer Verknappung von Energieressourcen einhergehen.

S. 17: „Ölimportabhängige Staaten werden in ihrer Außenpolitik zu mehr Pragmatismus gegenüber Ölanbietern gezwungen und müssen normative Aspekte dem Primat der Versorgungssicherheit unterordnen. Seitens der Ölförderstaaten ist eine politische Instrumentalisierung ihrer Machtposition und eine entsprechende Formierung von Allianzen entlang weltanschaulicher Konfliktlinien durchaus plausibel.“

S. 25: „Bilaterale Lieferbindungen für Erdgas könnten zudem noch leichter in auch politisch wirksame Abhängigkeitsverhältnisse umschlagen, die traditionelle politische Orientierungen oder die Einbindung in Bündnisse überlagern“

S. 26: „Ein Ausbau der Kernenergie verschärft aber vor allem die Problematik der Proliferation.“

Diese Warnungen des Bundwehrtransformationszentrum aus dem Jahre 2010 sprechen für sich, sind aber immer in den Wind geschlagen worden.

Nach dem hoffentlich baldigen Ende des Krieges muss die klare Erkenntnis der globalen Politik sein: Aufbau einer heimischen Energieversorgung in jedem Land, insbesondere in der EU und Ukraine zu 100% aus Erneuerbaren Energien. Dies würde Russland die Einnahmen nehmen, die in die russische Hochrüstung fließen und die politischen Entscheidungen der EU wie der Ukraine unabhängiger machen, da ein Kollaps der Wirtschaft durch steigende Energiepreise und Energieengpässe nicht mehr befürchtet werden müsste.

Ganz im Gegenteil: Erneuerbare Energien sind heute die kostengünstigste Art der Energieerzeugung, sogar als verlässliche Energiequelle mit einem Mix aus 100% Erneuerbare Energien und Speichertechnologien. Längst gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, dass eine Vollversorgung mit 100% nicht nur binnen eines Jahrzehnts möglich ist, sogar wesentlich kostengünstiger als das fossile atomare Energiesystem.

Mit dieser mittelfristig möglichen geopolitischen Befreiungsstrategie würde gleichzeitig Klimaschutz geschaffen und die ökonomischen sowie sozialen Belastungen durch fossile Rohstoffpreissteigerungen, zunehmende Dürren, Lebensmittelknappheit, Starkregen, Stürme, Meeresspiegelanstieg u.a. Katastrophen geschmälert. Genau solche durch die Erderwärmung verursachten Katastrophen führen zu zusätzlichen geopolitischen Verwerfungen, die an anderen Orten ebenso kriegerische Spannungen und Kriege hervorrufen können, wie aktuell in der Ukraine.

Hammelburg, 24. Februar 2022,

Ihr Hans-Josef Fell