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Michael Friedman, Angelika Seppi Grenzen der Formalisierung Von Leibniz bis Lacan Mit einem Gastbeitrag von Samo Tomšič ilinx. kollaborationen 4 Analysis & Excess Spector Books 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 3 09.11.21 18:17 Inhaltsverzeichnis 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 4 09.11.21 18:17 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 Michael Friedman, Angelika Seppi Einleitung Die unendliche Falte der Welt Angelika Seppi Von der Welt zum Subjekt zur Welt Michael Friedman Störungen der Falte Von der symbolischen Revolution zur Grundlagenkrise der Moderne Angelika Seppi Das Wissen der Zeichen Michael Friedman Zwischen Anschauung und Formalisierung Metamathematik und Metapher Angelika Seppi Problem und Ereignis Michael Friedman Schiffbrüche der Mathematik Topologien des Unbewussten Michael Friedman Ein Litoral der Mathematik Samo Tomšič Topologischer Materialismus Angelika Seppi Nachwort. Aporien technischen Lebens Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis Dank Impressum 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 5 7 25 43 65 91 115 138 161 182 199 227 244 247 248 09.11.21 18:17 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 6 09.11.21 18:17 Einleitung Michael Friedman, Angelika Seppi: Einleitung 7 Michael Friedman, Angelika Seppi 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 7 09.11.21 18:17 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 8 09.11.21 18:17 Michael Friedman, Angelika Seppi: Einleitung 9 In seinem über 7000 hexametrische Verse umfassenden Lehrgedicht De rerum natura prägte der römische Philosoph und Dichter Lukrez das damals wie heute unerhörte Bild eines durch und durch materialistischen und zugleich irreduzibel poetischen Universums.1 Poetik der Materie und Materialismus des Poems, so ließen sich die beiden Seiten jenes Textmodells beschreiben, das De rerum natura zu einem wahrhaftigen Simulakrum der Wirklichkeit verdichtet.2 Gerade so, wie sich das Lehrgedicht aus der Kombination von Buchstaben und ihrer Verteilung auf der leeren Seite zusammensetzt, ist die materielle Wirklichkeit mit Lukrez als kunstvolle Zusammensetzung von Atomen und Leere zu betrachten, als unendliche Textur des Seienden (lat. textura rerum), die alle Dinge aus sich selbst (lat. sponte sua) hervorbringt.3 Die Analogie zwischen der materiellen Textur der Natur und dem Text über die Natur evoziert gleichsam die Idee einer möglichen Übersetzung von Textur in Text und hat Lukrez die abwechselnd affirmativ oder pejorativ gebrauchte Zuschreibung eines unverbesserlichen Naturalisten eingebracht. Annähernd 2000 Jahre nach Lukrez haben wir die hexametrischen Verse seiner Naturbeschreibung durch die nüchterne »Sprache« mathematischer Formeln und wissenschaftlicher Prosa ersetzt, begegnen der fraglichen Übersetzbarkeit der materiellen Textur in den buchstäblichen Text mit äußerster Skepsis und gebrauchen den Begriff der Natur so gut wie nur noch mit Anführungszeichen. Die »Natur« ist, wie es Hartmut Böhme in paradigmatischer Weise zum Ausdruck brachte, »bis in die physikalische Grundlagenforschung hinein, ein Regelzusammenhang, der in den anthropogenen Arrangements konstituiert wird«;4 und das »Buch der Natur« ist, wie es Hans Blumenberg wiederum formulierte, wenn überhaupt, so nur als ein »in Hieroglyphen, in Chiffren, in mathematischen Formeln geschriebene[s]« vorstellbar, als »Paradox eines Buches, das sich dagegen verwahrt, Leser zu haben«.5 Vom Buch oder der Sprache der Natur zu 1 Vgl. Lukrez: Über die Natur der Dinge, reden, »als käme darin ein Ursprünglich-Unverstelltes neu übers. und kommentiert v. Klaus Binder, zu Wort, wäre heute platter Rückfall in Metaphysik«.6 mit einem Vorwort v. Stephen Greenblatt, Heute heißt dabei erstens: angesichts der seit der NeuBerlin: Galiani 2014. 2 Vgl. Eva M. Thury: »Lucretius’ Poem as a zeit radikalisierten Rationalisierung, Mathematisierung Simulacrum of the Rerum Natura«, in: The und Technologisierung der Natur und NaturwissenAmerican Journal of Philology, 108 / 2 (1987), schaften. Heute heißt dabei zweitens: angesichts der S. 270–294; sowie Jakob Moser: Semina rerum: Die Poetik der Materie im philosophikritischen Wende in der Erkenntnistheorie, die keinen schen Epos des Lukrez, Masterarbeit: Gegenstand zulässt, der nicht immer schon einen subUniversität Wien 2012; ders.: »Daedala jektiven Gesichtspunkt passiert hätte. Heute heißt daLingua«: Lukrez als Übersetzer des Realen, Dissertation: Universität Wien 2019. bei drittens und nicht zuletzt: angesichts der Kritik des 3 Vgl. Lukrez, Über die Natur der Dinge, transzendentalen Subjekts selbst, das nun seinerseits Buch I, Vers 823ff.; sowie Buch IV, Vers 158. nicht länger als letzter Grund, sondern als Effekt mehr 4 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 43. oder weniger unbewusster Infrastrukturierungen (der 5 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Geschichte, des Diskurses, der Schrift, der Medien, der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 18. Technik etc.) in Erscheinung tritt. 6 Böhme, Natur und Subjekt, S. 43. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 9 09.11.21 18:17 10 Grenzen der Formalisierung Wenn uns Lukrez’ Lehrgedicht heute dennoch oder erst recht als ungeheuerlich modern erscheint, so weil sich die Textualität der Materie, als deren Simulakrum De rerum natura sich versteht und artikuliert, keiner Sprache subsumieren, von keinem Subjekt beherrschen und in keinem Buch der Natur totalisieren lässt. Der ganze Naturalismus des Lukrez stützt sich, wie Gilles Deleuze betont, auf eine Kritik der Auffassung der Natur als Eine, Sein oder Ganze: »Die Natur ist keine kollektive, sondern eine distributive; die Naturgesetze (foedera naturai im Gegensatz zu den vorgeblichen foedera fati) verteilen Anteile, die sich nicht totalisieren. Die Natur ist nicht attributiv, sondern konjunktiv: sie drückt sich in einem ›und‹ und nicht in einem ›ist‹ aus.«7 Folglich muss der Naturalismus »ein Denken der unendlichen Summe« sein, »deren sämtlichen Elemente sich nicht gleichzeitig zusammenfügen, aber auch umgekehrt das sinnliche Empfinden endlicher Zusammensetzungen, die sich nicht als solche miteinander addieren«.8 Dass sich die Natur in keinem Buch totalisieren lässt, liegt mit Lukrez gedacht weniger an den Grenzen unseres Denkvermögens, als vielmehr an der unendlichen Diversität der Natur selbst, an der Poetik der Materie, die unablässig und stets aufs Neue »Verbindungen, Schwere, Zusammenprall und Abprall, Bewegung« schafft: »Durch sie aber entstehen alle Dinge.«9 In sie bleibt alles Denken eingelassen und damit rückbezogen auf jene Wirbel, Ströme und Turbulenzen, die aller Ordnung der Natur im Sinne der natura naturata konstitutiv vorausgehen: »Nun aber ist sie entstanden, die Natur existiert: Eine Inklination hat stattgefunden. Ein Wirbel also.«10 Eine abgelenkte Fließbewegung, eine Abweichung vom Gleichgewicht, ein Wirbel, der in der Folge stabil bleibt, solange zumindest, bis »die zerstörerische Kraft der Zeit« ihn »wieder zur Geraden« macht — 11 darauf beruhen in der Lesart Michel Serres’ zuerst die Geburt der Physik und später auch die Möglichkeiten ihrer Mathematisierung. Auch die entstandene Natur und ihre wissenschaftliche Beschreibung bleiben, wie es Marcel Duchamp mit seinem Ready-made malheureux (1919/1920) vor Augen geführt hat (Abb. 1), dem Wandel der Zeit und dem Wirken des Zufalls unterworfen. Das Ready-made malheureux, ein Hochzeitsgeschenk Duchamps an seine Schwester Suzanne, hat nur als fotografische Dokumentation überlebt sowie in Form eines Stilllebens, das Suzanne 1920 nach eben jener fotografischen Vorlage gemalt hat. Auf den zerknickten, ausgebli- 7 Gilles Deleuze: »Lukrez und das chenen Buchseiten, welche die Fotografie zeigt, sind un- Trugbild«, in ders.: Logik des Sinns, übers. v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt am Main: ter den grafischen Elementen auch geometrische Zeich- Suhrkamp 1993, S. 324–341, S. 325. nungen zu erkennen — zwei Kreise mit einer Geraden, die 8 Ebd., S. 342. durch ihre Schnittpunkte führt, und zwei Tangenten. Der 9 Lukrez, Über die Natur der Dinge, Buch I, Vers 630ff. Hintergrund ist im ausschließlichen Blick auf die Foto- 10 Michel Serres: »Die Geburt der Physik im grafie nicht eindeutig zu identifizieren; wer dagegen Text von Lukrez. Ströme und Turbulenzen«, auch das Gemälde kennt, vermag eine Balustrade im Au- in: ilinx — Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, 1 (2009), übers. v. Peter Geble, S. ßenraum auszumachen und in der Ferne ein Stück Him- 288–305, S. 304. mel. Die Fotografie ist aus Duchamps berühmten Werk 11 Ebd. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 10 09.11.21 18:17 Michael Friedman, Angelika Seppi: Einleitung Abb. 1 11 Marcel Duchamp: Ready-made malheureux, 1919 / 1920 (verloren / zerstört), Maße unbekannt, Schwarzweißfotografie, überarbeitet von Duchamp, Werkverzeichnis Nr. 367. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 11 09.11.21 18:17 12 Grenzen der Formalisierung Schachtel im Koffer bekannt, das Ready-made selbst nicht erhalten. Seine Auflösung und Zerstörung über die Zeit waren durchaus intendiert. Das Geometriebuch — nicht irgendeines, sondern Euklids Elemente — sollte den Instruktionen zufolge, die Duchamp seiner Schwester zukommen ließ, an einem durch den Buchrücken geführten Faden befestigt, vom Balkon ihrer Pariser Wohnung herabgehängt und den äußeren Umständen ausgesetzt werden, »damit der Wind die Seiten umblättern und die Aufgaben auswählen konnte, die vom Wetter zerstört würden«.12 Mit Wind und Wetter, die den mathematischen Beweisen zusetzen, sie gar auslöschen oder in der Luft zerreißen, ließ Duchamp die Turbulenzen der lukrezschen Physik in die Sätze Euklids eindringen: die äußeren Umstände in die innere Ordnung des axiomatischen Systems, physikalische Zustandsgrößen wie Temperatur oder Luftdruck in die Elemente der Geometrie. Die Turbulenzen, den Wirbel, die Abweichung, die Zeit und den Zufall in die Geschichte des Wissens, der Mathematik und der Formalisierung selbst einzuschreiben — damit wäre die Stoßrichtung der im vorliegenden Buch versammelten Überlegungen angegeben. Im Fokus stehen dabei nicht die Naturphilosophie eines Lukrez oder das künstlerische Wirken eines Duchamp, sondern die Grenzen der symbolischen Erkenntnis und der (mathematischen) Formalisierung. Zwei Ausgangsthesen lassen sich den folgenden Ausführungen voranstellen: erstens, dass es kein Wissen ohne symbolische Vermittlung geben kann und zweitens, dass der Akt der symbolischen Vermittlung zugleich einen Akt der Formalisierung impliziert. Zwei Sätze zum nachfolgenden Gebrauch des Begriffs der Formalisierung mögen vorläufig genügen: Zum einen rekurrieren wir auf einen engen Begriff der Formalisierung und meinen damit die formalsprachliche Beschreibung eines Gegenstandes oder einer Theorie, wie sie im regelgeleiteten Umgang mit schriftlichen Zeichen vollzogen wird: vom Rechnen über die Kalkülisierung bis hin zur Axiomatisierung und zum logisch-algebraischen Formalismus. Die Formalisierung im engen Sinn beruht, um es mit Sybille Krämer noch etwas genauer zu formulieren, auf dem »typographischen, schematischen und interpretationsfreien Symbolgebrauch« und ist wesentlicher Teil der Mathematik und Logik.13 Ein erweiterter Begriff der Formalisierung umfasst dagegen auch solche Prozesse, die nicht erst im Bereich des formalsprachlichen Symbolgebrauchs stattfinden, sondern bereits auf der Ebene der Stabilisierung, Ritualisierung und Habitualisierung unterschiedlichster Operationsabläufe und -vollzüge: von den Materiewirbeln über die Körper- bis hin zu den Kulturtechniken und den verschiedenen Medien, zu und in denen letztere sich formieren. Die materiellen, körper-, kultur- und medientechnischen Formationen bilden den konkreten Hinter- 12 Janis Mink: Marcel Duchamp. 1887–1968. grund, auf dem sich so etwas wie ein abstrakter Zeichen- Kunst als Gegenkunst, Köln: TASCHEN 2006, gebrauch allererst herausbilden kann. Den erweiterten S. 63. 13 Sybille Krämer: Symbolische Maschinen. mit dem engen Begriff der Formalisierung verknüpfend, Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem gliedert sich das vorliegende Buch in vier Kapitel: Abriß, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1988, S. 2. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 12 09.11.21 18:17 Michael Friedman, Angelika Seppi: Einleitung 13 1. zur unendlichen Falte der Welt, 2. zur Operationalisierung der Schrift, 3. zu den metamathematischen und metaphorischen Rahmungen der Mathematik sowie 4. zu den Topologien des Unbewussten. Die vier Kapitel sind ihrerseits jeweils in zwei Unterkapitel unterteilt, die aus einem Dialog zwischen den beiden Autor*innen hervorgegangen sind und darüber hinaus einen Gastbeitrag von Samo Tomšič umfassen. Das erste Kapitel nimmt seinen Ausgang bei der irreduziblen Komplexität der Welt, die mit Friedrich Wilhelm Leibniz und Gilles Deleuze als äußerste Grenze der Formalisierung artikuliert wird. Dabei wird der unendlichen Falte, welche die Komplexität der Welt ausmacht, selbst eine formalisierende Kraft zugemessen, die sich einer letztgültigen mathematischen Formalisierung allerdings gerade widersetzt. Vom Widerstand der Falte gegen ihre mathematische Formalisierung zeugt nicht zuletzt der im ersten Kapitel gleichsam eröffnete Blick auf die barocke Malerei. Dem barocken Auftakt folgt im zweiten Kapitel der Versuch eines kultur- und medientechnisch informierten Aufrisses der Geschichte der Formalisierung. Der Schwerpunkt liegt dabei zum einen auf dem Medium der Schrift, von der Herausbildung der Zählzeichen bis zu ihrer neuzeitlichen Operationalisierung, zum anderen auf dem modernen Konflikt zwischen Anschauung und Formalisierung. Die doppelte Krise der modernen Mathematik — die Krise der Anschauung und die sogenannte Grundlagenkrise — bilden den Übergang zum dritten Kapitel, das sich mit Fragen der Metamathematik und Metaphorik beschäftigt, mit zwei Bereichen also, die auf je unterschiedliche, innerund extramathematische Art und Weise die Grenzen der Formalisierung anzeigen. Die historischen und theoretischen Referenzen reichen dabei von der Antike bis zur Gegenwart, von Platon bis Alain Badiou. Das vierte Kapitel nähert sich dem Vermögen und den Grenzen der Formalisierung noch einmal von einer anderen Seite kommend: von dem Subjekt des Unbewussten und seiner psychoanalytischen Konzeptualisierung durch Sigmund Freud und Jacques Lacan. Dabei wird der bisherige Dialog geöffnet und mit dem Beitrag von Samo Tomšič um eine weitere Stimme ergänzt. Sein Aufsatz widmet sich Lacans Formalisierung des Unbewussten und prononciert diese im Sinne eines topologischen Materialismus. Das abschließende Nachwort nimmt die Fäden einer Archäologie des Unbewussten auf und verlagert den Schwerpunkt dabei vom Subjekt des Unbewussten hin zum Unbewussten der Technologie und den Paradoxien des technischen Lebens. Im Fortgang der Argumentation wird die Geschichte der Formalisierung innerhalb einer umfassenderen Geschichte des Wissens und der symbolischen Erkenntnis situiert, die Mathematik wiederum als Zeichensystem dargestellt und behandelt, das mit unterschiedlichen symbolischen und grafischen Elementen — mit Buchstaben, Matrizen, Funktionen, Diagrammen, topologischen Gebilden etc. — verfährt und 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 13 09.11.21 18:17 14 Grenzen der Formalisierung dabei höchst vielfältige Probleme formuliert und Lösungen vorschlägt. Das Format und die Struktur mathematischer Zeichensysteme, der ontologische Status mathematischer Objekte, ihre materiellen und technomedialen Bedingungen, ihre Referenzialität oder Autonomie und ihr epistemisches Potenzial werden dabei ebenso zur Diskussion gestellt wie die Rolle der Formalisierung im Hinblick auf die zunehmende Monopolisierung einer berechenbaren Rationalität oder der schwindende Widerstand des Realen gegenüber seiner Übersetzung ins Symbolische. Dabei argumentieren wir durchgehend, dass die Entstehung, Entwicklung und Entfaltung der Formalisierung keineswegs als linearer Prozess aufzufassen sind, der sich Schritt für Schritt alle erdenklichen Gebiete und Gegenstände er- 14 Unter einer »symbolische Maschine« verschlösse. Gegen das Modell eines alle Fehl-, Irr-, Um- steht Sybille Krämer keine wirkliche und Kreisgänge ausbügelnden Fortschritts entwickeln Maschine, »kein[en] Apparat bestimmter physikalischer, z. B. mechanischer oder wir das Bild einer mehrdimensionalen Topologie der elektronischer Wirkungsweise, der eine Formalisierung, die irreduzibel von den Falten und bestimmte Stelle in Raum und Zeit einEchos des Scheiterns, Fehlens, Stotterns und Begehrens nimmt«, sondern eine Maschine, die nur auf dem Papier existiert. Krämer, Symbolische durchzogen ist. Die sogenannte »symbolische Maschi- Maschinen, S. 2. Was eine symbolische ne«, mit der Sybille Krämer die Formalisierung identi- Maschine leistet, ist die Transformation fiziert,14 erweist sich so gesehen als ebenso vielfältig bestimmter Symbolreihen von einer gegebenen Anfangskonfiguration zur wie die Natur aller Dinge, zu deren Mathematisierung gesuchten Endkonfiguration. Die Sphäre des sie seit der Neuzeit angetreten war. Und wenn die sym- Symbolischen wird dabei nirgends verlassen. bolischen Maschinen mehr stolpern, hinken oder stot- Im Laufe des Buches werden wir zu einer Problematisierung dieser Auffassung tern, als geradewegs fortzuschreiten, so weil der »Har- gelangen. lekinmantel« der Natur, an dessen Rockzipfel auch noch 15 Deleuze, »Lukrez und das Trugbild«, S. der raffinierteste Formalismus hängt, »vollständig ist 326 (Hervorh. M.F. / A.S.): »Die Natur ist Harlekinmantel, der vollständig ist und Lücken hat, und Lücken hat«.15 vollständig und lückenhaft, Dasein und Die Mathematisierung der Natur Folgt man den großen Narrativen der Wissenschaftsgeschichte, etwa in der kanonischen Darstellung Alexandre Koyrés, ereignete sich im Zuge der neuzeitlichen Mathematisierung der Natur nicht lediglich der Übergang von der vormodernen zur modernen Auffassung des Wissens und der Wissenschaft, sondern eine regelrechte »Revolution der Denkart«.16 Gründete die vormoderne Wissenschaft auf einem Verhältnis zu den realen Dingen, deren Existenz als gegebene vorausgesetzt wurde, hängt die moderne Wissenschaft aufs Engste von der Herausbildung eines äußerst wirkmächtigen mathematischen Symbolismus ab. Auch wenn der Prozess der Mathematisierung der Natur nicht ohne Widersprüche und Einwände verlief,17 setzte sich mit Galileo Galilei zunehmend die Auffassung durch, dass das »Buch der Natur« in mathematischen Buchstaben geschrieben sei.18 Koyré spricht in diesem Zusammenhang konsequent von der 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 14 Nichtsein, wobei jedes von beiden sich als unbegrenzt [frz. immensum] erweist, indem es das andere begrenzt.« 16 Diese Wendung stammt freilich nicht von Koyré, sondern von Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, Werkausgabe Bd. III, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017 [1787 ], S. 22, B XI, XII. 17 Beispielhaft führt Koyré Boyles korpuskulare Auffassung des »Buchs der Natur« an: »[…] the book of nature [according to Boyle] […] was written not in geometrical but in corpuscular characters. Not mathematical structure but corpuscular texture formed for him the inner reality of being. In the explanation of the universe we have to start with — or stop at — matter, not homogeneous Cartesian matter, but matter already formed by God into various, diversely determined corpuscles«. Alexandre Koyré: »The Origins of Modern Science. A New Interpretation«, in: Diogenes, 4 / 16 (1956), S. 1–22, S. 12. 18 Vgl. Galileo Galilei: Il Saggiatore, Bd. 6, Florenz: Edition Nazionale 1896 [1623], S. 232. 09.11.21 18:17 Michael Friedman, Angelika Seppi: Einleitung 15 Verwirklichung oder Verdinglichung der Geometrie und der Mathematik, und nicht von ihrer Anwendung auf eine vorausgesetzte Realität. Seiner Auffassung zufolge beginnt die moderne Wissenschaft also in dem Moment, wo sie ihren Gegenstand nicht mehr als einen natürlich gegebenen, sondern als einen symbolisch hervorgebrachten versteht und behandelt. Symbolisch hervorgebracht heißt in diesem Fall nicht mehr und nicht weniger, als dass der Gegenstand, mit dem die moderne Wissenschaft operiert, ein in der Sprache der Mathematik, genauer gesagt der Geometrie, gefasster ist. Koyré spricht diesbezüglich von einer wissenschaftlichen Revolution im starken Wortsinn: Die Begründer »der neuzeitlichen Wissenschaft [...] mußten eine Welt zerstören und sie durch eine andere ersetzen. [...] [Sie] mußten […] sogar eine sehr natürliche Einstellung, nämlich die des gesunden Menschenverstands, durch eine andere ersetzen, die alles andere als natürlich war. Deshalb erforderte die Entdeckung der Dinge, der Gesetze, die heute so simpel, so kinderleicht erscheinen: Fallgesetz, Bewegungsgesetze, eine so langwierige und zermürbende, oftmals erfolglose Anstrengung einiger der größten Genies des Menschengeschlechts, eben die Anstrengung eines Galilei, die eines Descartes«.19 Weil die aristotelische Physik reale Gegenstände in einem erfüllten Raum, die Geometrie dagegen abstrakte Gegenstände im Vakuum untersuchte, konnte für das vormoderne Weltbild nichts gefährlicher sein als die Vermengung dieser beiden unterschiedlichen Gesetzen und Logiken gehorchenden Dimensionen. Nicht nur, dass eine solche Vermengung die kosmologische Ordnung zu zerstören drohte — und schließlich zerstört hat; was im Streit um die Mathematisierung der Natur auf dem Spiel stand, war die Wahrheit der Natur selbst. Was sich die längste Zeit gegen eine mathematische Wahrheit der Natur sperrte und damit gegen Galileis wegweisende Formel, war die alltäglich erfahrene qualitative, vage, inexakte Natur physischer Körper. Ein physischer Körper weist nicht die Exaktheit geometrischer Figuren auf und kennt die Perfektion des Kreises, des Dreiecks, der geraden Linie bloß als geometrische Abstraktionen. Wahr in der Abstraktion, blieben die mathematischen Konstruktionen den beweglichen, veränderlichen, qualitativ bestimmten Körpern des physischen Raumes äußerlich — bis zu jener wissenschaftlichen Revolution, die so eng mit den Namen und Projekten Galileo Galileis und René Descartes’ verknüpft ist. Auch wenn es die mathematische Sprache ist, welche die Struktur der modernen Wissenschaft auf nachhaltigste Weise prägte und bestimmte, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass diese wiederum aufs Engste mit der experimentellen Forschung und der im 17. Jahrhundert rasanten Entwicklung der Technologie verbunden war. In diesem Sinne ist die Mathematisierung 19 Alexandre Koyré: »Galileo und Plato«, in: ders., Leonardo, Galilei, Pascal. Die Anfänge nur ein, wenngleich höchst bedeutender Aspekt, der der neuzeitlichen Naturwissenschaft, übers. v. dem Gesicht der modernen Wissenschaft seine prägHorst Günther, Frankfurt am Main: Fischer nanten Züge verliehen hat. Man denke nur an die Be1988, S. 88–122, S. 92. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 15 09.11.21 18:17 16 Grenzen der Formalisierung deutung der Erfindung des Teleskops, des Mikroskops, des Thermometers, der Luftpumpe oder des Blitzableiters.20 Wie Engelhard Weigl in Übereinstimmung mit Bruno Latour betont, gehorchten die mathematische und die technologische Entwicklungslinie gleichermaßen einer übergeordneten Neutralisierungs- oder »Reinigungsarbeit«: »Mit der Institutionalisierung der neuen Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist eine Neutralisierung ihrer sozialen, politischen und religiösen Gehalte verbunden, die die Naturwissenschaften erst zu dem gemacht haben, wie wir sie heute kennen. Mit der Forderung nach Objektivität und Sachlichkeit verbindet sich auch ein Sprachreinigungsprogramm, das gegen die ›Verhexung des Geistes‹ durch die traditionelle Rhetorik vorgeht […]. Thomas Sprat (1636–1713), der erste Historiograph der Royal Society, schreibt, […] die[se] Sprache sollte 20 Vgl. Engelhard Weigl: Instrumente der Neuzeit: Die Entdeckung der modernen der ›mathematischen Klarheit‹ angepaßt werden«.21 Wirklichkeit, Stuttgart: J. B. Metzler 1990. Die starke These der Mathematisierung der Natur zu- 21 Ebd., S. 102f. (Hervorh. M.F. / A.S.). Den sätzlich relativierend, muss außerdem ergänzt werden, Begriff der »Reinigungsarbeit« verwendet Bruno Latour in Wir sind nie modern gewesen. dass die damalige Astronomie und Physik nur bestimm- Versuch einer symmetrischen Anthropologie, te mathematische Begriffe für die Formulierung der Na- übers. v. Gustav Roßler, Berlin: Akademie turgesetze auswählten und nur ein Bruchteil aller da- 1991, um damit eines der beiden für die moderne Wissenschaft konstitutiven mals bekannten mathematischen Begriffe überhaupt Ensembles von Praktiken zu umschreiben. Anwendung fand. Von einer universellen mathemati- Das andere umfasst die der Reinigung schen Sprache kann also kaum die Rede sein, vielmehr gegenläufigen Praktiken der Übersetzung. 22 Vgl. hierzu auch Sophie Roux, die nicht liefen die physikalischen und die mathematischen For- zuletzt die Rolle Edmund Husserls in der schungen parallel zueinander und befruchteten sich ge- Etablierung dieser Erzählung hervorhebt: genseitig, ohne notwendig in einem mathematischen »Husserl claimed that Galileo was the first to mathematize nature, i.e., according to Begriffssystem aufzugehen. Aus diesen Gründen gilt es, Husserl, to surreptitiously substitute die große Erzählung im Stile Koyrés und die damit ver- mathematical idealities for the concrete bundene Vorstellung eines kontinuierlichen Fort- things of the intuitively given surrounding world. […] Koyré introduced Husserlianism in schritts, der sich bruchlos von Galilei über Descartes the history of science […].« Sophie Roux: und Isaac Newton bis hin zu den abstrakten Systemen »Forms of Mathematization«, in: Early und axiomatischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts er- Science and Medicine, 15 / 4–5 (2010), S. 319–337, S. 319, die nicht zuletzt die Rolle strecke, unter Berücksichtigung der Vielfalt von For- Edmund Husserls in der Etablierung dieser men und Praktiken der Technologisierung und Mathe- Erzählung hervorhebt. matisierung in der modernen Wissenschaft in Frage zu 23 Vgl. auch David Garber / Sophie Roux (Hg.): The Mechanization of Natural Philosostellen.22 Selbst im ausschließlichen Blick auf die ma- phy, Dordrecht: Springer 2012; Geoffrey thematischen Praktiken dieser Zeit entlarvt sich die gro- Gorham / Benjamin Hill / Edward Slowik / Kenße Erzählung als vage Abstraktion, die der verwickelten neth Waters (Hg.): The Language of Nature: Reassessing the Mathematization of Natural Geschichte sowohl der Mathematik als auch der Wis- Philosophy in the Seventeenth Century, senschaft kaum gerecht zu werden vermag. Wie Sophie Minneapolis / London: University of MinnesoRoux argumentiert, gilt es daher, die dichte Vielfalt der ta Press 2016; Lesley B. Cormack / Steven A. Walton / John A. Schuster (Hg.): Mathematiangewandten Mathematik im 17. Jahrhundert hervorzu- cal Practitioners and the Transformation of heben und die eine große Erzählung durch die vielen Natural Knowledge in Early Modern Europe, kleinen Erzählungen zu ergänzen, zu bereichern und Cham: Springer 2017; Pamela O. Long: Artisan / Practitioners and the Rise of the New umzuschreiben.23 Im Übrigen durchlief auch die reine Sciences, 1400–1600, Corvallis: Oregon Mathematik im 17. Jahrhundert eine große Expansions- State University Press 2011. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 16 09.11.21 18:17 Michael Friedman, Angelika Seppi: Einleitung 17 und Entwicklungsphase, in der neue Objekte und Bereiche eingeführt wurden (etwa die analytische Geometrie oder die Infinitesimalrechnung).24 Die angezeigte und gleich mehrfache Expansion — der Technologisierung und Experimentalisierung, der Mathematisierung und der mathematischen Praktiken selbst — widersetzt sich jeder eindimensionalen Betrachtung und verlangt von vornherein ein multiperspektivisches Sehen. Dass letzteres auch dem Verständnis anderer Epochen und Episoden der Geschichte des Wissens und der Wissenschaft zugute käme, versteht sich von selbst. Auf diese Weise entsteht ein unorthodoxes Bild sowohl der Wissenschaftsge24 Vgl. etwa Paolo Mancosu: Philosophy of Mathematics and Mathematical Practice in schichte als auch der Mathematik und der mathematithe Seventeenth Century, Oxford: Oxford schen Formalisierung, in dem sich das vermeintlich einUniversity Press 1999. heitliche, autonome und unerschütterliche Sein der Ma25 Jacques Lacan: Encore. Das Seminar, Buch XX (1971–1973), Textherstellung durch thematik als vielfältiges und vielschichtiges, mit andeJacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, ren Bereichen im Austausch und nie stillstehendes Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Werden entlarvt. Für die Grenzen der Formalisierung Wien / Berlin: Turia + Kant 2017, S. 100. 26 Vgl. Gottlob Frege: Grundlagen der bedeutet dies, dass sie nicht ein- für allemal fest-, sonArithmetik, Breslau: Wilhelm Koeber 1884, S. dern ihrerseits einer historischen Bewegung untersteVf.: »Eine Arithmetik, die auf Muskelgefühle [ ] hen. Die historisch kontingenten Grenzen der Formaligegründet wäre, würde … so verschwommen ausfallen wie diese Grundlage. Nein, mit sierung wiederum laden dazu ein, auch das Reale, das Gefühlen hat die Arithmetik gar nichts zu nach Jacques Lacans berühmter Formulierung notwenschaffen. Ebensowenig mit inneren Bildern, dig den »Umweg [frz. impasse] der Formalisierung« zu die aus Spuren früherer Sinneseindrücke zusammengeflossen sind. Das Schwankenpassieren hat, einer Historisierung zu unterziehen.25 de und Unbestimmte, welches alle diese Gestaltungen haben, steht im starken Gegensatze zu der Bestimmtheit und Festigkeit der mathematischen Begriffe und Gegenstände.« 27 Vgl. Øystein Linnebo: Philosophy of Mathematics, Princeton: Princeton University Press 2017, S. 4. 28 Rein exemplarisch sei hier etwa auf die innermathematischen Kritiken Kurt Gödels und Alain Turings verwiesen, auf die mathematikphilosophischen Kritiken von Albert Lautman über Gilles Deleuze bis zu Alain Badiou (vgl. Kap. 3.1), auf die »diagrammatische Wende« in der Philosophie der Mathematik oder den gegenwärtigen ethnomathematischen Ansatz. Vgl. zu letzteren: Kenneth Manders: »The Euclidean Diagram«, in: Paolo Mancosu (Hg.), The Philosophy of Mathematical Practice, Oxford: Oxford University Press 2008, S. 80–133; Silvia De Toffoli /Valeria Giardino: »Forms and Roles of Diagrams in Knot Theory«, in: Erkenntnis, 79 / 4 (2014), S. 829–842; Bill Barton: »Making Sense of Ethnomathematics: Ethnomathematics is Making Sense«, in: Educational Studies in Mathematics, 31 (1996), S. 201–233; Lena Soler / Emiliano Trizio / Andrew Pickering (Hg.): Science as It Could Have Been, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 2015. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 17 Die Formalisierung der Mathematik Wenn man sich auf die Geschichte der Mathematik und der mathematischen Formalisierung im 19. und 20. Jahrhundert konzentriert, sind es dagegen drei Hauptmerkmale, die das orthodoxe Bild der Mathematik prägen: 1. Das Wissen der Mathematik ist apriorisch: Die mathematischen Urteile beruhen nicht auf Sinneserfahrungen oder Experimenten.26 2. Die Mathematik befasst sich mit Wahrheiten, die notwendig sind, und zwar in dem Sinne, dass diese Wahrheiten nicht anders hätten sein können. 3. Die Mathematik befasst sich mit abstrakten Objekten, die sich nicht in Raum und Zeit befinden und darüber hinaus nicht an kausalen Zusammenhängen teilnehmen.27 Alle drei Merkmale sind im Lauf des 20. Jahrhunderts aus mehreren Blickwinkeln kritisch in Frage gestellt worden: von Seiten der mathematischen Theorien selbst ebenso wie von Seiten der Philosophie der Mathematik, einer historisch-kritischen Epistemologie, der Psychoanalyse oder der Kultur- und Medienwissenschaft.28 Im Mittelpunkt der Diskussion kann dabei die 09.11.21 18:17 18 Grenzen der Formalisierung Frage nach dem Status der Schrift verortet werden und der damit verbundenen »symbolischen Selbständigkeit der Zahl«.29 Wie Ellen Harlizius-Klück in ihrer Studie zur Genese der deduktiven Mathematik betont, ist der Schrift, bei allen spekulativen Vorzügen, die ihr schon in der griechischen Antike zuerkannt wurden, gleichsam stets mit Zweifel begegnet worden: »Sie wird einerseits als unerlässlich für die Entwicklung der Mathematik angesehen, weil sie Realitäten transportiert, ohne deren objektive Grundlagen thematisieren zu müssen; andererseits hält man ihre Realitäten für vernachlässigbar, weil sie keine objektive Grundlage besitzen.«30 Die relative Autonomie der symbolischen Zeichenverfahren bindet Harlizius-Klück an die materiellen Praktiken zurück, aus denen sie ursprünglich hervorgeht; eine Rückbindung, die sich zum Beispiel und in besonders eindrücklicher Weise im Blick auf das Verhältnis der Weberei zur modernen Computation zeigt, aber weit darüber hinaus bereits die Herausbildung der Zählzeichen im Kontext frühgeschichtlicher Mnemotechniken, die Geometrie im Kontext antiker Vermessungstechniken oder die Operationalisierung der Schrift im Kontext der neuzeitlichen Buchhaltung informierte. Im 19. und 20. Jahrhundert rücken dagegen die materiellen Praktiken als Ursprung der symbolischen Eigenständigkeit der Zahl mehr und mehr in den Hintergrund; vielmehr wurden diese Praktiken — wie etwa das mechanische Weben oder Knoten — so weitgehend formalisiert, dass jeder außersymbolische Kontext unerheblich wurde.31 Die Auffassung, dass die Mathematik ausschließlich im Symbolischen operiere und ohne jede objektive oder realgegenständliche Grundlage und Referenz auskomme, wird gemeinhin dem mathematischen Formalismus des 20. Jahrhunderts unterstellt und an den Namen David Hilberts geknüpft. In Reaktion auf die Paradoxien der frühen und später als naiv bezeichneten Mengentheorie, setzte Hilbert bekanntlich dazu an, »[a]lles was bisher die eigentliche Mathematik ausmacht[e]«, nunmehr einer strengen Formalisierung zu unterziehen, »so daß die eigentliche Mathematik oder die Mathematik in engerem Sinne zu einem Bestande an beweisbaren Formeln wird. […] Zu dieser eigentlichen Mathematik 29 Krämer, Symbolische Maschinen, S. 5. kommt eine gewissermaßen neue Mathematik, 30 Ellen Harlizius-Klück: Weberei als episteme und die Genese der deduktiven eine Metamathematik, hinzu […]. In dieser Meta- Mathematik, Berlin: edition ebersbach 2004, mathematik kommt — im Gegensatz zu den rein S. 70. formalen Schlußweisen der eigentlichen Mathe- 31 Vgl. Birgit Schneider: Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenmatik — das inhaltliche Schließen zur Anwendung, weberei, Zürich / Berlin: diaphanes 2007; und zwar zum Nachweis der Widerspruchsfreiheit Moritz Epple: Die Entstehung der Knotentheorie: Kontexte und Konstruktionen einer der Axiome«.32 modernen mathematischen Theorie, Die von Hilbert anvisierte Metamathematik sollte die Braunschweig / Wiesbaden: Springer Vieweg natürlichen Sprachen der bisherigen Mathematik in die 1999. 32 David Hilbert: »Neubegründung der artifizielle Sprache eines einheitlichen axiomatischen Mathematik: Erste Mitteilung«, in: AbhandSystems überführen und sich zur Beweisbarkeit der lungen aus dem Seminar der Hamburgischen neuen Formelsprache logischer Schlussweisen bedie- Universität, 1 (1922), S. 157–177, S. 174. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 18 09.11.21 18:17 Michael Friedman, Angelika Seppi: Einleitung 19 nen. Ziel des Unterfangens Hilberts war es dabei zweifelsohne, die ins Wanken geratenen Grundfesten der Mathematik wieder auf sicheren Boden zu stellen. Denn was die mengentheoretischen Paradoxien entlarvt hatten, war ebendies: dass das vermeintliche »Paradies Cantors« Widersprüche in sich trug,33 welche die Gesamtanlage der Mathematik zum Einsturz zu bringen drohten.34 Die dem Formalismus im Stile Hilberts gerne unterstellte Reduktion auf ein bloßes und an sich bedeutungsloses Spiel von Zeichen ist aus dieser Perspektive sicherlich nicht gerechtfertigt. Und auch die Charakterisierung Hilberts als dem Vertreter einer strikt und aus33 »Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben schließlich formalistischen Philosophie der Mathemakönnen«, heißt es in David Hilbert: »Über das tik ist inzwischen anderen Interpretationen gewichen.35 Unendliche«, in: Mathematische Annalen, Die reduktionistische Auffassung Hilberts ba95 / 1 (1926), S. 161–190, S. 170. 34 Die Rede ist vom Burali-Forti-Paradoxon sierte, um zwei Beispiele zu geben, entweder auf einer (1897), den Cantorschen Antinomien zu eng gefassten Lesart seiner Grundlagen der Geome(1897–1899) und insbes. der Russellschen trie aus dem Jahr 1899 oder auf einer ebenso verkürzten Antinomie, die von Bertrand Russell 1903 publiziert wurde und daher ihren Namen Lesart seines Programms für die »Neubegründung der erhielt, obwohl sie schon vorher von Ernst Mathematik«. Dort bemerkt Hilbert: »Hierin liegt die Zermelo entdeckt worden war. Die Russellsche feste philosophische Einstellung, die ich zur BegrünAntinomie zeigt, dass jede (naive) Mengenlehre, die auf dem Prinzip unbeschränkter dung der reinen Mathematik — wie überhaupt zu allem Mengenbildung beruht, zu Widersprüchen wissenschaftlichen Denken, Verstehen und Mitteiführt. Vgl. Bertrand Russell: The Principles of len — für erforderlich halte: am Anfang — so heißt es Mathematics, Cambridge: Cambridge University Press 1903, insbes. § 106. hier — ist das Zeichen«.36 Wie oben bereits angeführt, 35 Hilberts Finitismus war für sein metamaunterscheidet Hilberts Programm zunächst zwischen thematisches Programm wichtig, aber dieser »eigentliche[r] Mathematik« und »Metamathematik«, Ansatz ist, wie Michael Detlefsen diesbezüglich bemerkt, nicht identisch mit dem wobei es das Ziel letzterer ist, den Nachweis der WiderFormalismus: »[T]he early descriptions of spruchsfreiheit ersterer zu erbringen. Hilberts Vorhafinitism focused on two attributes of finitary ben, das, was bisher die eigentliche Mathematik ausevidence: namely, its commitment to the concrete (as opposed to the abstract), and its machte, einer strengen Formalisierung zu unterziehen, allegiance to constructive rather than unterstand dabei keinem geringeren Anspruch, als die non-constructive modes of reasoning. in Frage gestellten Grundlagen der Mathematik durch Hilbert and [Paul] Bernays described finitary reasoning as a form of mental experimentatidie Metamathematik zu retten, oder wie es Christian on with concretely conceived objects, where Tapp formulierte, »aus der Mathematik formale Systethe experiments conducted consist in me zu machen, deren Widerspruchsfreiheit mit Hilfe envisioning what happens to a concrete object when one applies certain constructive einer Metamathematik gezeigt werden soll. Die Metaoperations to it«. Michael Detlefsen: Hilbert’s mathematik selbst soll nicht formalisiert werden (bzw. Program, Dordrecht: Reidel 1986, S. 49. sein), sondern ist inhaltlich konzipierte Mathematik«.37 36 Hilbert, »Neubegründung der Mathematik«, S. 163 (Hervorh. i.O.). Spätestens mit Kurt Gödel allerdings durfte klar gewor37 Christian Tapp: An den Grenzen des den sein, dass Mathematik und Metamathematik keinesEndlichen. Das Hilbertprogramm im Kontext wegs getrennte Welten darstellen und das Vorhaben Hilvon Formalismus und Finitismus, Berlin / Heidelberg: Springer 2013, S. 35. berts darüber hinaus zum Scheitern verurteilt war. Gö38 Vgl. Kurt Gödel: »Über formal unentdels Unvollständigkeitssätze von 1931 zeigten, dass jedes scheidbare Sätze der Principia Mathematica (axiomatisierbare) formale System, das die grundlegenund verwandter Systeme I«, in: Monatshefte für Mathematik und Physik, 38 / 1 (1931), S. den Objekte und Operationen der Arithmetik auszudrü173–198. Vgl. auch Peter Smith: An Introducticken vermag, außerstande ist, seine eigene Konsistenz on to Gödel’s Theorems, Cambridge: zu beweisen.38 Wenige Jahre darauf besiegelte Alain TuCambridge University Press 2007. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 19 09.11.21 18:17 20 Grenzen der Formalisierung ring das Scheitern des formalistischen Vorhabens, indem er Hilberts Frage, ob sich alle mathematischen Probleme mithilfe ei39 Vgl. Alan Turing: »On Computable ner automatischen — also algorithmischen Prüfung — ent- Numbers, with an Application to the scheiden ließen, negativ beantwortete.39 Ironie des Entscheidungsproblem«, in: Proceedings of Schicksals ist es dabei, dass auf der universellen Rechen- the London Mathematical Society, 42 (1937), S. 230–265, S. 230. maschine, mit der Turing 1937 die theoretischen Grenzen 40 Gregory J. Chaitin: »Computers, Paradoder Berechenbarkeit bewies, heute alle laufenden Com- xes, and the Foundations of Mathematics«, putersysteme basieren. In diesem Sinne — »[n]ot for rea- in: American Scientist, 90 / 2 (2002), S. 164–171, S. 164. soning, not for deduction, but for programming, for cal- 41 Dem Satz von Löwenheim-Skolem culating, for computing« — war dem Formalismus und der zufolge hat jedes endliche axiomatische artifiziellen Sprache, die er herausforderte, freilich ein System aus der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre [ZF] ein abzählbares Modell. Jedoch ungeheuerlicher Erfolg beschieden.40 kann in der Mengenlehre ein endliches Die Grenzen der Formalisierung Gödels Theoreme und Turings Halteproblem gelten seither als berühmteste Belege für die inneren Grenzen, Verwicklungen und Instabilitäten der Mathematik und Formalisierung, aber die Geschichte bietet unzählige weitere Beispiele: So bildeten die rationalen Zahlen die Grenze der pythagoreischen Mathematik und die Entdeckung der irrationalen Zahlen ihre von Schrecken und Strafe begleitete Überschreitung; so bedeuteten die imaginären Zahlen ihren Entdeckern nicht weniger als »gedankliche Folter« und zugleich eine regelrechte Explosion des mathematischen Universums; so beinhaltete die euklidische Geometrie über Jahrhunderte hinweg ein unbeweisbares Axiom, dessen Erforschung schließlich zur Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrien führen sollte; von den Paradoxien der naiven Mengenlehre war bereits die Rede, von Gödels und Turings Unvollständigkeits- und Unberechenbarkeitsbeweisen ebenso. Auch das Skolem-Paradoxon verdiente es,41 erwähnt zu werden, genauso wie das Randomness-Postulat von Gregory J. Chaitin.42 Von den 23 ungelösten Problemen, die Hilbert auf dem 2. Internationalen Mathematikerkongress im Jahre 1900 in Paris formulierte und als zukünftige Aufgabe aller nachfolgenden Mathematik aufstellte, konnten bis heute nicht alle gelöst werden und zahlreiche neue sind dazugekommen.43 Das vorliegende Buch bietet keine vollständige Zusammenstellung aller Grenzen, an welche die Mathematik bislang gestoßen ist und weiterhin stößt. Es verfolgt auch nicht das Ziel, »die« Geschichte der Formalisierung von A bis Z zu rekonstruieren. Vielmehr versucht es anhand ausgewählter Beispiele zu einer Problematisierung der Möglichkeiten und Grenzen der 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 20 axiomatisches System angegeben werden, sodass die Existenz einer überabzählbaren Menge folgt und daraus ein paradoxes Resultat: »Die Existenz eines derartigen ZFC-Modells [C steht für choice] [...] erscheint auf den ersten Blick deswegen paradox, weil im Rahmen von ZFC die Existenz überabzählbarer Mengen leicht beweisbar ist [mit Cantors Diagonalargument]. [...][Diese Menge] enthält dann nur abzählbar viele Elemente. Der Begriff ›abzählbar‹ hat also ›innerhalb und außerhalb der Welt‹ einen unterschiedlichen Sinn, was gar nicht beabsichtigt war.« Wolfgang Rautenberg: Einführung in die Mathematische Logik, Vieweg+Teubner: Wiesbaden 2008, S. 91. 42 Zur skandalösen These, dass es mathematische Wahrheiten gibt, »that are true for no reason at all«, gelangt Chaitin in seinen Arbeiten auf dem Gebiet der algorithmischen Informationstheorie (AIT): »Using software written in Mathematica that runs on an IBM RS/6000 workstation, I constructed a perverse 200-page exponential diophantine equation with a parameter N and 17,000 unknowns: Left-Hand-Side (N) = Right-Hand-Side (N). For each nonnegative value of the parameter N, ask whether this equation has a finite or an infinite number of nonnegative solutions. The answers escape the power of mathematical reason because they are completely random and accidental.« Gregory J. Chaitin: »Responses to Theoretical Mathematics«, in: AMS Bulletin, 30 (1994), S. 181–182, S. 181 (Hervorh. M.F. / A.S.). 43 Vgl. https://www.simonsfoundation. org/2020/05/06/hilberts-problems-23-and-math/ (zuletzt aufgerufen am 29.5.2021); sowie Steve Smale: »Mathematical Problems for the Next Century«, in: Mathematical Intelligencer, 20 / 2 (1998), S. 7–15; und Keith Devlin: The Millennium Problems. The Seven Greatest Unsolved Mathematical Puzzles of Our Time, New York: Basic Books 2002. 09.11.21 18:17 Michael Friedman, Angelika Seppi: Einleitung 21 Mathematik und mathematischen Formalisierung beizutragen, indem die Historizität und in eins damit der Ereignischarakter der Mathematik hervorgehoben werden: Schließlich sind es die unerwarteten und unberechenbaren Ereignisse, welche zu einer Verwandlung des je gültigen Möglichkeitsraumes der Mathematik führen, zu einer Grenzverschiebung, die Unmögliches möglich macht, aber auch neue Unmöglichkeiten schafft. Blickt man hinter die künstlich geglättete und polierte Fassade des orthodoxen Bildes der Mathematik, wirken die vorab aufgelisteten Paradoxa, Probleme und Inkonsistenzen nicht länger wie exzeptionelle Turbulenzen in einem ansonsten störungsfreien Feld. Die Turbulenzen selbst sind vielmehr die Regel der Formalisierung, wenngleich nicht alle mathematischen Bereiche und Gegenstände mit derselben Empfindlichkeit auf sie reagieren. In diesem Sinne betont Juliette Kennedy, dass bestimmte mathematische Objekte von einer bemerkenswerten Unerschütterlichkeit oder Stabilität sind, während andere wiederum extrem empfindlich auf leichte Störungen von Syntax und Logik reagieren.44 Man denke etwa an die Formalisierung des Systems der reellen Zahlen. Wie Alfred Tarski bewiesen hat, existiert für jeden Satz aus dem Prädikatenkalkül der reellen Zahlen ein Algorithmus, der berechnen kann, ob der Satz gilt oder nicht. Fügt man diesem System jedoch ein Symbol für die ganzen Zahlen hinzu, versagt die Entscheidbarkeit des Systems.45 Kennedys Begriff des entanglements bietet eine überzeugende Konzeptualisierung des Verhältnisses der mathematischen Objekte zu ihren formalen »Umwelten«: »[Consider a] mathematical object or construction, given in natural language. By formalising the construction we mean reconstructing the object within a formal system, one equipped with a specified formal language, an exact proof concept and an exact (formal) semantics, such that the proof concept is sound with respect to the associated semantics. One can ask whether the natural language object is (when formalised) particularly sensitive to aspects of the underlying logic or formalism, in the sense that a slight change in the formalism, e.g. on the level of syntax, leads to a significant change in the formal environment. If there is such a significant effect, then in this case we say that the object is entangled with the formal systems in question.«46 Die kleine Passage enthält eine Fülle von Ideen, die es wert wären, näher ausgeführt zu werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient das quasi-ökologische Verhältnis, das Kennedy zwischen der natürlichen Sprache — dem Objekt — und der Formalisierung — der formalen 44 Juliette Kennedy: Gödel, Tarski and the Lure of Natural Language. Logical EntangleUmwelt — etabliert. Dabei ist klar, dass bereits die natürliment, Formalism Freeness, Cambridge: che Sprache hier als eine mathematische Konstruktion Cambridge University Press 2021, S. 2. aufgefasst werden muss und die Formalisierung wiederum 45 Vgl. Alfred Tarski: The Completeness of Elementary Algebra and Geometry, Paris: als deren formalsprachliche Rekonstruktion. So verloInstitut Blaise Pascal, 1967. ckend es wäre, die ökologische Homologie weiterzuspin46 Kennedy, Gödel, Tarski and the Lure of nen und nach den spezifischen System-Umwelt-Grenzen Natural Language, S. 5. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 21 09.11.21 18:17 22 Grenzen der Formalisierung der Formalisierung zu fragen, gilt unsere Aufmerksamkeit hier der Art und Weise, wie bestimmte Objekte beziehungsweise natürliche Sprachen auf Veränderungen des sie rekonstruierenden Formalismus reagieren. Schon allein die Verdopplung von natürlicher und formaler Sprache verweist uns auf eine Komplikation innerhalb der Sprache der Mathematik, die sich in (mindestens) zwei Subsprachen entfaltet, wobei die eine der anderen keineswegs über- oder untergeordnet ist. Vielmehr treten sich beide als ineinander verwickelte gegenüber und bringen sich — zumindest in gewissen Fällen — gegenseitig zum Stottern. Mit anderen Worten: Weder die natürliche Sprache noch ihre Formalisierung bilden einen unerschütterlichen Grund, auf den sich die Theorie der Mathematik aufbauen ließe. Stattdessen scheint es angebracht, ein »prismatisches Fundament« anzunehmen, »das also aus einem Flickenteppich von Theorien besteht«.47 Auch in diesem Sinne entwickelt das vorliegende Buch anstelle einer großen Erzählung eine kleine, von ihren Grenzen her artikulierte Auffassung der Formalisierung, die über ihre eigenen Falten stolpert, stottert, von Turbulenzen und Störungen durchzogen ist und nicht zuletzt von Begehren und Verrat heimgesucht wird. Gerade in Hinsicht auf das Stottern und die kleine Form lohnt sich ein Seitenblick auf Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Plädoyer für eine »kleine Literatur«. Vertreter einer kleinen Literatur vermögen es Deleuze und Guattari zufolge, in ihrem Schreiben ein kreatives Ungleichgewicht zu erzeugen, welches die Sprache zum Stottern bringt und gerade darüber in Bewegung versetzt: »Es ist dies ein Stottern, bei dem jede Position […] eine Schwingung ausmacht. Die Sprache schlottert an all ihren Gliedern. Hierin liegt das Prinzip eines dichterischen Begriffs der Sprache selbst: als ob die Sprache eine abstrakte, unendlich variierte Linie ziehen würde.«48 In Bezug auf Franz Kafka heben Deleuze und Guattari den »falschen Gebrauch von Präpositionen« hervor, den »Mißbrauch der Reflexivpronomen, [die] Verwendung von Allerweltswörtern […]«,49 womit er die Sprache dazu bringe, jeden repräsentativen oder referenziellen Rahmen zu sprengen und sich bis an ihre äußersten Grenzen auszudehnen. Eine derart deterritorialisierte Sprache zeigt »Ereignisse an der Grenzlinie der Sprache«50 und lässt der bekannten Sprache »eine unbekannte Fremdsprache entschlüpfen, damit man an die Grenzen des Sprachlichen herankommt und etwas anderes als Schriftsteller wird, zersplitterte Visionen erobert, die durch die Wörter eines Dichters, die Farben eines Malers oder die Klänge eines Musikers hindurchdringen«.51 Gibt es, der kleinen Lite- 47 Ebd., S. 12. ratur entsprechend, auch eine kleine Mathematik? Ei- 48 Gilles Deleuze: Kritik und Klinik, übers. v. nen Umgang und Gebrauch mit der Sprache der Mathe- Joseph Vogl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 147. matik, der sie bis ans Äußerste treibt, um dort Grenzer- 49 Gilles Deleuze / Félix Guattari: Kafka: Für eignisse hervorzubringen, welche sie gleichsam in et- eine kleine Literatur, übers. v. Burkhart was anderes verwandeln? Welche Visionen und Kroeber, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 33. Abenteuer erwarten uns an den Grenzen der Mathema- 50 Deleuze, Kritik und Klinik, S. 9. tik und der Formalisierung? Sehen wir zu. 51 Ebd., S. 153. 211025-Seppi_Friedmann_18_DRUCK.indd 22 09.11.21 18:17