Milieu Fragmente
Technologische und ästhetische Perspektiven
ilinx. kollaborationen 3
Milieu Fragmente
Technologische
und ästhetische
Perspektiven
Herausgegeben von
Rebekka Ladewig
und Angelika Seppi
ilinx. kollaborationen
3
Analysis & Excess
Spector Books
Inhaltsverzeichnis
7
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi
Milieu 2020. Eine Einleitung
Techniken und Technologien
41
Katharina D. Martin
Organisation und Konkretion. Die Technik als
Problem des Ausdrucks in der Philosophie
49
Christian Groß
Natur, Technik, Körper. Abseits anthropo- und
eurozentrischer Chauvinismen
64
Anna Echterhölter
Fischfang auf Watom und die Ökologie der
Zahl
76
Sebastian Egenhofer
Ströme, Filter und Sensoren. Alteritätsbezug
von Technik und Kunst
96
Yuk Hui
Modulation nach der Kontrolle
Kontaktzonen und Subjektivierungen
119
Marie-Luise Angerer
Zu den Bedingungen affektiver Milieus
130
Samo Tomšič
Die Extimität des symbolischen Milieus
140
Angelika Seppi
Abstrakte Maschinen, konkrete Gefüge, existenzielle Ritornelle. Milieus der Individuation
und Subjektivierung nach Deleuze und Guattari
158
Stephan Gregory
Unter Einfluss. Im Umkreis des Verrats
170
Michael Cuntz
Literarische Modellierungen von Schutzmilieus.
Rousseau, Bioy Casares, Houellebecq
188
Rebekka Ladewig
The Loss of Touch. Negative Umwelt in Kurt
Goldsteins Theorie des Organismus
Künstlerischer Beitrag
209 Dane Mitchell
Post hoc
Bilder und Medien
243 Kathrin Friedrich
Im virtuellen Zaun. Umgebungen adaptiver
Medien
250 Kate Chandler, Nina Franz
Screen Publics. Der Bildschirm als Wahrnehmungsmilieu der Spätmoderne
262 Mathias Bruhn
Membran der Sichtbarkeit: Glas
276 Claudia Blümle
La dolce vita. Lacans film- und bildtechnische
Umwelten
284 Michael Friedman
Bilder der Mathematik. Von Maschine und
Architektur zu Organismus und Milieu
Bio- und Geopolitiken
305 Bernard Stiegler
Industrie der Spuren
323 Bernd Bösel
Technopolitiken der Milieukontrolle
329 Martin Müller
Nach CRISPR. Zur dritten Proliferation der
Biopolitik (1800 / 1943 / 2004)
342 Felicity Scott
Welten machen, Menschen konfigurieren,
oder: Von der Welt zum Menschen zur Welt
354 Birgit Schneider
Funknetze und ihre Tarnungen als Technohabitate für Menschen, Pflanzen, Tiere und
Maschinen
367 Petra Löffler
Counter-Media-Environments. Ästhetik und
Geopolitik nach McLuhan
Anhang
379
384
389
390
Verzeichnis der Autor*innen
Abbildungsverzeichnis
Dank
Impressum
Rebekka Ladewig,
Angelika Seppi
Milieu 2020.
Eine Einleitung
Wohl kein anderes Ereignis wird im Jahr 2020 für mehr Schlagzeilen
gesorgt haben als das in der chinesischen Metropole Wuhan ausgebrochene Coronavirus COVID-19. Im Laufe weniger Wochen und
Monate hat die globale Ausbreitung der durch das Virus ausgelösten
Atemwegserkrankung SARS-CoV-2 die Gesundheits- und Wirtschaftssysteme zahlloser Staaten bis an die Grenzen der Belastbarkeit geführt
und einschneidende Veränderungen im Alltag von Milliarden von Menschen nach sich gezogen. Zum heutigen Datum werden weltweit
677.938 Fälle gezählt mit 31.746 Todesfällen und 146.319 genesenen
Patient*innen.1 Während China nach der gelungenen Eindämmung der
Infektions- und Todesfälle die im Zusammenhang der Krise verhängten
Notverordnungen (Ausgangs- und Reisebeschränkungen, Versammlungsverbot, Absperrungen ganzer Städte, Regionen und schließlich
des gesamten Landes inklusive der Schließung von Flughäfen, Bahnhöfen und anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen etc.)
inzwischen wieder gelockert hat, verschärfen sich die Maßnahmen in
den momentan besonders hart betroffenen Staaten wie den USA, Italien, Spanien und Frankreich. Ein voraussichtliches Ende der COVID19-Pandemie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt ebenso wenig in Sicht
wie die mittel- und langfristigen Folgen des verhängten Ausnahmezustands eine realistische Einschätzung zulassen. Trotzdem zeichnen
sich bereits jetzt einige höchst bedenkliche Entwicklungen ab, die in
ihrer Gesamtheit auf die von Roberto Esposito beschriebenen Schattenseiten der immunitas verweisen: 2 Sie betreffen die zu beobachtende Rückkehr eines starken Regierungsmodells mit nationalen
Grenzziehungen, das Verhältnis politischer Handlungsträger*innen zur
sogenannten Expertenkultur und den medialen Meinungsmacher*innen, das Krisenmanagement, die Einschränkung der Freiheitsrechte
•
7
8
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
und des Datenschutzes, die internationale und intergenerationelle
Dynamik und nicht zuletzt das Verhältnis humanitärer und ökonomischer Werte.3 Wieviel Wert wird dem Schutz des Lebens beigemessen
worden sein im Verhältnis zum Schutz der Volkswirtschaften, aber auch
und vielleicht noch dringlicher: der Schutz welchen Lebens? Ohne den
Ernst der Lage und das Leid der von der Viruserkrankung Betroffenen
oder Bedrohten schmälern zu wollen, entlarvt das Verhältnis der im
Kampf gegen die Corona-Epidemie mobilisierten Mittel zu denjenigen
Maßnahmen, die seit Jahren und Jahrzehnten verwehrt und unterlassen werden – man denke an die Entwicklungshilfe, die Austeritätspolitik, die Flüchtlingskrise, an Syrien, Jemen, die Demokratische Republik
Kongo etc. – , den nekropolitischen Grund der Biopolitik.4
Auch wenn die mit der gegenwärtigen Krise verbundenen Erwartungen – von den Extremen eines zukünftigen biopolitischen Totalitarismus über den Zusammenbruch des Kapitalismus hin zum Beginn
eines neuen Kommunismus – rein spekulativ bleiben, macht die Krise
selbst faktisch spür- und erfahrbarer denn je, was es heißt, in ein weltweites natürliches und kultürliches Beziehungsgeflecht eingebunden
zu sein. Die primitive Biologie des Virus trifft auf die avanciertesten Mittel, Maschinen und Apparate der zeitgenössischen Medizin und Biotechnologien; die biologischen Infektionsmechanismen kreuzen sich
mit den technologischen Infrastrukturen des globalen Waren- und Personenverkehrs; die rasant steigenden Infektions- und Todeszahlen
•
Screenshot von nextstrain.org: Ausbreitung des Coronavirus
SARS-CoV-2 vom 29.3.2020
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
ziehen unerhörte bio- und nekropolitische Maßnahmen nach sich mit
ebenso unerhörten ökonomischen Konsequenzen, von der affektiven
Dimension der Pandemie ganz zu schweigen; der sozialen Distanzierung auf der physischen Ebene antwortet eine Intensivierung der
telekommunikativen Vernetzung, die von der privaten Kommunikation
über Facebook, Zoom & Co. bis hin zur medialen Berichterstattung,
zum politischen und zum wissenschaftlichen Austausch reicht.
Diskurse der Ökologie – Ökologisierung des Diskurses
In aller Eindrücklichkeit hält uns COVID-19 den Spiegel einer durch
und durch vernetzten Welt vor Augen, deren Komplexität sich weder
praktisch noch theoretisch reduzieren lässt. In praktischer Hinsicht
stellt uns die irreduzible Komplexität unserer Beziehungsgeflechte
vor die Herausforderung einer radikalen Erneuerung des Politischen
(im weitesten Sinne der gemeinsamen Entscheidung darüber, wie wir
leben wollen). In theoretischer Hinsicht ist das Wissen von den Beziehungen seit jeher auf eine Vielzahl von Disziplinen verteilt und hat
sich zuletzt in einem erweiterten ökologischen Diskurs zu bündeln
begonnen, der die Rede von einem neuen ökologischen Paradigma
und einer damit verbundenen neuen historischen Semantik zu legitimieren scheint:
»We are witnessing the breakthrough of a new historical semantics: the breakthrough of ecology. There are thousands of ecologies today: ecologies of sensation, perception, cognition, desire,
attention, power, values, information, participation, media, the
mind, relations, practices, behavior, belonging, the social, the
political – to name only a selection of possible examples. There
seems to be hardly any area that cannot be considered the object
of an ecology and thus open to an ecological reformulation.«5
Waren die Beziehungen der lebendigen Organismen untereinander und
zu ihrer natürlichen Umgebung – ihrem environment (in der englischsprachigen Forschungsgemeinde), ihrer Umwelt (in der deutschen)
oder ihrem milieu (in der französischen) – bis weit ins 20. Jahrhundert
der privilegierte Gegenstand der biologischen Disziplin der Ökologie,
so zieht der erweiterte ökologische Diskurs neben den biologischen
also auch soziopolitische, technologische, ökonomische und epistemologische Dimensionen in Betracht. Damit findet eine perspektivische Verschiebung von den natürlichen hin zu den nicht-natürlichen
Ökologien und einer Vielzahl gemischter Milieus statt.6 Mit der Erweiterung dieses Diskurses wiederholt und verschiebt sich ein epistemischer Umbruch, der sich bereits im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ereignete und unter dem Schlagwort der Beziehung oder
Relationalität gefasst werden kann. Die diesbezüglich verhandelten – zwar verwandten, aber durchaus zu differenzierenden – Konzepte
des environments, der Umwelt und des Milieus markieren dabei drei
unterschiedliche begriffs- und wissenschaftshistorische Rahmen, um
9
10
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
die Beziehungen und Wirkungsgefüge zwischen den Fragmenten der
betrachteten natürlichen und nicht-natürlichen Ökologien zu erfassen. Zum Einsatz und zur Entfaltung sind sie seither nicht mehr nur in
der Ökologie als genuiner Wissenschaft der Beziehungen gekommen,
sondern auf dem weiten Feld der Lebenswissenschaften im Allgemeinen. Wie Florian Sprenger in seiner umfassenden Studie über die Epistemologien des Umgebens gezeigt hat, lässt sich außerdem feststellen, dass in allen drei angeführten Wissenschaftssprachen und -kontexten die Beschreibung ökologischer Beziehungen von Beginn an
aufs Engste mit der Frage ihrer technologischen Gestaltbarkeit verknüpft war.7
Kleine Geschichte des Milieus
Wenn wir im vorliegenden Band das aus dem Französischen stammende Konzept des Milieus in den Fokus rücken, so tun wir dies erstens aufgrund seines dezidiert intermedialen Charakters, der noch viel
stärker als das englische environment oder die deutsche Umwelt auf
ein »reines Beziehungssystem (système de rapports) ohne jegliche
Verankerung (supports)« abzielt.8 Zweitens steht die französische
Begriffsprägung in engster Verbindung zu einer Philosophie der Individuation, die das wechselseitige Verhältnis von Individuum und Milieu
aus der Perspektive ihrer Genese zu verstehen versucht, ohne das,
was es zu erklären gilt, als fait accompli bereits vorauszusetzen. Als
Hauptvertreter und einflussreichster Wegbereiter einer solchen genetischen Konzeptualisierung ist Georges Canguilhem zu benennen,
während sein Schüler Gilbert Simondon letztere aus dem fokussierten
Feld des Lebendigen herausgelöst und auf physikalische, psychische,
soziale sowie schließlich auch auf technische Prozesse der Individuation übertragen hat.9 Aus einer solchen genetischen Perspektive gilt es,
wie Bernard Stiegler in einem prägnanten Eintrag auf Ars Industrialis
schreibt, von der Mitte (frz. mi-lieu) der Beziehung auszugehen, »das
heißt, von jenem Punkt, wo sich weder das Individuum noch das Milieu
bereits herausgebildet haben. Das Milieu liegt also, präzise gesagt,
nicht außerhalb des Individuums: es ist seine Ergänzung (frz. complémentaire) und in diesem Sinne keine Umgebung«.10
Eine derartig komplementäre Lesart des Milieus ergibt sich
bereits aus dem Kompositum von mi (Mitte) und lieu (Ort), das schon
etymologisch jeden eindimensionalen Zuschnitt zurückweist. Zureichend bestimmt werden kann das Milieu nur unter Berücksichtigung
des multidimensionalen Beziehungsgeflechts zwischen den Fragmenten, die es zugleich verbindet und trennt. Als mehrdeutiges Zwischen ermöglicht das Milieu die Passage, den Austausch und Transport aller Arten von Botschaften: Energie, Informationen, Affekten,
Gefühlen, Zeichen und Bedeutungen. Vor diesem Hintergrund verwundert es beinahe, dass es so lange gedauert hat, bis das Konzept des
Milieus – in den Worten Canguilhems – »zu einem universalen und not-
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
wendigen Modus der Erfassung von Erfahrung und Existenz der Lebewesen« werden konnte.11 Von Georges Canguilhem in seinem 1947 und
1948 gehaltenen und mittlerweile kanonischen Vortrag über Das
Lebendige und sein Milieu noch als zukünftiges Ereignis beschworen,
ist das Milieu inzwischen zweifelsohne zu einer »Kategorie des zeitgenössischen Denkens« 12 geworden und vielleicht bereits auf dem Weg,
zu einem Allgemeinplatz zu werden. Damit droht eine Verwässerung
der konzeptuellen Einsätze des Milieus einherzugehen, der ein kurzer
begriffs- und ideengeschichtlicher Abriss entgegenwirken mag.
In einer einflussreichen begriffsgeschichtlichen Studie aus dem
Jahr 1942 verfolgt der Romanist und Literaturtheoretiker Leo Spitzer
die Genealogie des Milieubegriffs (in Abgrenzung zu der des Ambientes) ausgehend vom griechischen periechon über das lateinische
ambiens und medium hin zum neuzeitlichen und modernen ambiance
und milieu.13 Der Wandel, den er dabei herausstellt, führt vom griechischen Ursprung, der das Umhüllende, Umschließende, Umfassende
oder Umgebende meinte und auf die kosmologische Sympathie zwischen Mensch und Universum abzielte, zu einer zunächst vornehmlich mechanischen Lesart, die sich insbesondere seit Isaac Newton
niederzuschlagen beginnt, wenngleich bloß der Sache nach. Der
Begriff des Milieus und seine eigentliche wissenschaftshistorische
Entwicklung setzen mit den französischen Mechanisten des 18. Jahrhunderts ein und werden in der Folge auf die Physik und die gerade im
Entstehen begriffene Biologie sowie die sich später herausbildende
Subdisziplin der Ökologie übertragen. Ausgehend von der ökologischen Verknüpfung biologischer und anthropogeografischer Ansätze
hat der Milieubegriff seine Spuren schließlich auf dem weiten Feld der
Lebenswissenschaften insgesamt hinterlassen.
Doch werfen wir zunächst einen näheren Blick auf die mechanistische Tradition, die mit dem französischen milieu das lateinische
medium bzw. fluidum übersetzte, das seine besondere Stellung in der
Physik Newtons zwischen jenen Körpern einnahm, welche nicht
unmittelbar miteinander in Kontakt und trotzdem in Wechselwirkung
zueinander standen. Von Anfang an nimmt das Milieu damit die zweifache Rolle eines Ortes und Vermittlers ein und dient dabei zur Explikation derjenigen Wechselwirkungen, die sich nicht aus dem unmittelbaren oder unmittelbar ersichtlichen Kontakt der Körper ableiten
ließen, welche für die cartesianische Physik maßgeblich waren. Der
Lichtäther als paradigmatisches Fluidum, mit dem Newton versuchte,
jene Fernwirkungen zu erklären, die für die cartesianische Physik
schlicht nicht infrage kamen, wird nach und nach zum Wirkungsträger
und damit zum Medium zwischen und in den Körpern, die es verbindet und gleichsam durchdringt:
»Daraus ergibt sich der Übergang vom Begriff des TrägerFluidums zu seiner Bezeichnung als Milieu. Das Fluidum ist der
Vermittler zwischen zwei Körpern, es ist ihre Mitte [milieu]; und
•
11
12
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
da es all diese Körper durchdringt, befinden sie sich inmitten [au
milieu de] des Fluidums. Newton und der Physik der zentripetalen Kräfte zufolge kann man von einer Umgebung [environnement] oder einem Milieu sprechen, gerade weil es Kraftzentren
gibt. Der Milieubegriff ist ein wesentlich relativer Begriff. Wenn
man den Körper, auf den sich die durch das Milieu übertragene
Handlung auswirkt, getrennt betrachtet, so vergisst man, dass
das Milieu ein Zwischen-zwei-Zentren ist, und behält nur seine
zentripetale Übertragungsfunktion und seine Bedeutung als
Umgebung zurück. In dieser Weise tendiert das Milieu dazu, seinen relativen Sinn zu verlieren und den absoluten Charakter einer
an sich seienden Realität anzunehmen.«14
Die Relationalität des Milieubegriffs durchzieht die französische
Tradition von Georges-Louis Leclerc de Buffon und Jean-Baptiste
de Lamarck über Auguste Comte, Honoré de Balzac und Hippolyte
Adolphe Taine bis hin zu André Leroi-Gourhan, Gilbert Simondon,
Gilles Deleuze und Félix Guattari. Was die früheren von den späteren
Theoretikern des Milieus unterscheidet, ist das Verständnis der Relation als solcher und die Richtung der dabei veranschlagten Einwirkungen. Von seiner wissenschaftlichen Etablierung im 18. Jahrhundert bis
•
Beugung von Wellen in einem Medium an einem Spalt,
Isaac Newton 1687
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
zum frühen 20. Jahrhundert ist die Relationalität von Milieu und Organismus zunächst vorwiegend mechanistisch gefasst, und zwar im
Sinne der Determination des Organismus durch sein Milieu. Selbst
dort, wo etwa mit Comte eine dialektische Konzeption der Beziehung
zwischen Organismus und Milieu als »Kräftekonflikt« und damit die
Möglichkeit wechselseitiger Modifikation anklingt, wird die Einwirkung des Milieus auf den Organismus als primär, die umgekehrte Einwirkung des Organismus auf das Milieu dagegen als sekundär, wenn
nicht als weitgehend unerheblich eingestuft.15 Erst unter dem zunehmenden Einfluss des Pragmatismus und der Gestalttheorie lässt sich
zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Umkehrung des Verhältnisses
beobachten und damit eine Revision mechanistischer Ursache-Wirkungs-Modelle. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Kehrtwende markieren Jakob von Uexkülls Studien zur Tierpsychologie sowie Kurt
Goldsteins Studien zur Humanpathologie.16
Neben der spezifisch antimechanistischen, dynamischen und
neovitalistischen Prägung, die Canguilhem dem Milieubegriff schließlich verleiht, ist es insbesondere der zugleich eröffnete konstruktive
Blickwinkel, der für die Konzeption des vorliegenden Bandes entscheidend ist. Wie vor ihm bereits Uexküll und Goldstein sieht auch
Canguilhem das grundlegende Merkmal des Lebewesens darin, »sich
selbst sein Milieu zu schaffen, es selbst auszubilden«.17 Er betont
damit zugleich die Irreduzibilität des Lebendigen auf die Milieuwirkungen sowie den konstruierten oder künstlichen Charakter von Milieus. Wie Thomas Brandstetter und Karin Harrasser bemerkt haben,
ist es ausgerechnet der neovitalistische Widerstand gegen jede
deterministische Reduktion, der den regelnden Zugriff auf das Lebendige fortan radikalisieren sollte: »Erst das Lebewesen, das prinzipiell
veränderbar und wandelbar ist, ist durch Erziehung, Bildung, Training,
Züchtung, Dressur, pharmakologische oder genetische Manipulation,
Architektur etc. verbesserungsfähig. Das Leben wird damit zum
Objekt einer systematischen Modifikation.« 18 Vom technoökologischen Optimierungsparadigma der Nachkriegszeit vereinnahmt, ist
die systematische Modifikation des Lebendigen zum zentralen
Gegenstand eines allgemeinen Steuerungswissens geworden, das
auf verschiedene Weise von den Theorien des Behaviorismus, der
Gestalttheorie und der Umweltlehre vorbereitet worden war und sich
schließlich in der Kybernetik verfestigte, um sich von hier aus zum
Brennpunkt einer technologisch gestützten Biopolitik zu entwickeln.19
Inzwischen laufen die Bestände dieses Wissens im Namen einer allgemeinen Ökologie zusammen, die die politischen Implikationen
technologischer Zugriffe auf das Lebendige ebenso in das Feld des
Ökologischen eingemeindet wie deren kybernetisches Erbe.
Sektionen und Perspektiven
Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge widmen sich die-
13
14
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
sen neuen Erscheinungsformen des Ökologischen mit besonderem
Augenmerk auf deren technologische und ästhetische Dimensionen.
Sie grenzen dabei auf die eine oder andere Weise immer schon an die
Frage des Politischen. Schließlich vollziehen sich die gegenwärtigen
Milieutransformationen nicht als blinder Automatismus der biologischen, technologischen oder epistemischen Evolution, sondern als
konflikthafte Prozesse der An- und Enteignung natürlicher und kultürlicher Ressourcen sowie praktischer und theoretischer Fertigkeiten
und Wissensbestände. Dabei gehen wir davon aus, dass eine zeitgenössische Aktualisierung des Milieukonzepts die technologischen
und ästhetischen Bedingungen der Gegenwart nicht nur zu berücksichtigen, sondern sie vielmehr in den Mittelpunkt zu rücken und auf
ihre politischen Implikationen hin zu beleuchten hat.
In vier Sektionen zu Techniken und Technologien, Kontaktzonen
und Subjektivierungen, Bildern und Medien sowie Bio- und Geopolitiken eröffnet der Band eine Vielfalt an Frage-, Problem- und Blickrichtungen, die der Verallgemeinerung des Milieus im Singular die Idee
der irreduziblen Komplexität je besonderer Milieus im Plural gegenüberstellen und den notwendig fragmentarischen Charakter des Milieuwissens kenntlich machen.
Ergänzt werden die theoretischen Einsätze um einen künstlerischen Beitrag von Dane Mitchell. Seine List of Losses aus der Arbeit
Post hoc konfrontiert uns auf zugleich sachliche und poetische Weise
mit einem Inventar verschwundener, verlorener oder zerstörter Phänomene und damit mit der Vergänglichkeit von Milieukonfigurationen
und der Verletzbarkeit ihrer Komponenten.
Sektion I: Techniken und Technologien
Gerade in Hinsicht auf die zeitgenössischen technischen Milieus des
Menschen stellt die vorab hervorgehobene wechselseitige Ergänzung
von Individuum und Milieu eine entscheidende Voraussetzung dar. In
der technikphilosophischen Tradition von Ernst Kapp über Marcel
Mauss, André Leroi-Gourhan und Gilbert Simondon bis hin zu ihren
zeitgenössischen Aktualisierungen sind Anthropo- und Technogenese
untrennbar miteinander verbunden. Leroi-Gourhan nimmt dabei
gewissermaßen eine Zwischenstellung ein: In Anschluss an Kapp und
Seite an Seite mit Marshall McLuhan, dessen Understanding Media im
gleichen Jahr erscheint wie Leroi-Gourhans Technique et langage,20 ist
er einer der Hauptvertreter des Extensionsparadigmas.21 Die Vorstellung von der Veräußerung menschlicher Sinne und Sinnesorgane vertritt er so resolut, dass sie ihn bis zur Externalisierung des Gehirns führt,
die in seinen Augen den Endpunkt einer im Zeichen der Technik – und
nicht etwa der Biologie – stehenden Evolution bildet. Gleichzeitig übernimmt er aus der Technikphilosophie seines Lehrers Marcel Mauss
den Fokus auf die körperliche Geste, aus deren Bewegungsprogrammen sich die nachgelagerten Artefakte erst exteriorisieren. /
In
• ••
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
15
strikter Zurückweisung einer Reduktion von Technik auf Werkzeuge
und Maschinen, die außerhalb des Körpers liegen, hatte Mauss die
Frage aufgeworfen, was es stattdessen bedeuten würde, vom Körper
selbst und dessen gestischem Repertoire als primärer Technik auszugehen. Gehen, Schwimmen, Zeigen etc.: Jede dieser Praktiken stellt
eine Fertigkeit dar, die Formen der Kreativität, der Nachahmung und
der Geschicklichkeit umfasst.22 In Verbindung damit steht das von
Mauss inspirierte und von Leroi-Gourhan und André-Georges Haudricourt ausgearbeitete Konzept der Operationskette, das sich mit dem
Fokus auf die praxeologischen Wissensbestände, die zwischen Artefakten, Instrumenten und Apparaten wirken und diese verbinden, ganz
explizit den technischen Milieus als situierten Praktiken zuwendet.23
Die Aspekte der Exteriorisierung, der Körpertechniken und
Operationsketten fließen gleichermaßen in aktuellere Auffassungen
ein. So geht etwa Stiegler so weit zu sagen, dass sich der Mensch
nicht anders als »im Mi-lieu, zwischen der Auslagerung der Organe
und der Einlagerung der Prothesen« individuiert.24 Vollzieht sich die
Anthropogenese in eben diesem Zwischenraum, wird die Technik
gleichsam zu dem Milieu des Menschen, die Technologie, im erweiterten Sinne des logos der techné, zur Humanwissenschaft par excellence.25 Der Mensch und das Wissen vom Menschen halten sich in
anderen Worten nicht bloß auch und erst recht nicht lediglich seit Kur-
Elementare Beziehungen zwischen den Verrichtungen (Gesten)
und den primitiven Werkzeugen nach André Leroi-Gourhan
•
16
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
zem in der Sphäre der Technik auf, sondern inhärieren ihr ganz
wesentlich und von jeher. Damit laufen die skizzierten Entwicklungen
auf ein erweitertes Verständnis von Technik hinaus, das neben werkzeug- und maschinengestützten Operationsabläufen sowie dem in
Technologien gebündelten Wissen auch die alltäglichen und gewohnheitsmäßigen körperlichen Fertigkeiten sowie Formen nicht standardisierten oder impliziten Wissens einschließt.
Eine eigene ontologische Existenzweise ist der Sphäre des
Technischen von Gilbert Simondon zugewiesen worden, der unter
den Stichworten der Individuation und Konkretion die genetische Perspektive seines Lehrers Canguilhem auf das technische Individuum
übertragen hat. Insbesondere mit Blick auf die differenzierte Betrachtung der technischen Milieus, die er unter Rückgriff auf Claude Bernards »milieu intérieur« 26 und den bereits angeführten Milieubegriff
Lamarcks entwickelt, ist Simondons Technikphilosophie in diesem
Kontext von Bedeutung. Als Sitz der Selbstregulation kommt hier das
»assoziierte Milieu« zu stehen: »als Vehikel der Information oder der
bereits von Information geleiteten Energie«.27
••
Australische Gerätschaften zur Beschaffung und Fertigung nach
André Leroi-Gourhan: a) Speer und Speerschleuder; b) Grabstock;
c) Bumerang; d) Chopper; e) Messer; f) Pfriem; g) Doppelschaber;
h) Rindenschale
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
In alledem stellt die Technik alles andere als bloß ein Mittel zum Zweck
dar. Sie steht vielmehr für eine von multiplen Weisen der Welterschließung. Darüber hinaus ist die Technik selbst nicht eine, sondern viele
und variiert je nach dem historischen, geo- und soziopolitischen sowie
medialen Kontext. Vor diesem Hintergrund legen die in der Sektion
»Techniken und Technologien« versammelten Beiträge verschiedene
Zugänge zur Technikauffassung aus je spezifischen diskursiven und
historischen Blickwinkeln frei.
Der Aufsatz von Katharina D. Martin rekonstruiert eine genealogische Linie der Technikphilosophie, die unter dem Schlagwort der
Organisation von Schellings Auffassung des Organismus über Kapps
frühe technikphilosophische These der Organprojektion bis hin zu
Uexkülls umwelttheoretischer Biologie führt. Mit Simondon, Deleuze
und Guattari setzt sie dem Paradigma der Organisation schließlich
jenes der Konkretion entgegen. Anhand dieser beiden leitenden
Begriffe stellt Martin eine Auffassung von Technik zur Diskussion, die
sich weniger an den technischen Objekten orientiert als vielmehr an
den Möglichkeiten und Formen des Ausdrucks. In mehr als einer Hinsicht eröffnet der Entwurf einer Philosophie der Technik als Problem
des Ausdrucks eine kritische Revision klassischer technikphilosophischer Narrative.
Expliziter noch als der Beitrag Martins veranschlagt der Aufsatz
von Christian Groß eine Kritik an den anthropo- und eurozentrischen
Kennzeichnungen, die dem westlichen Verständnis von Technik
zugrunde liegen. Darunter fallen die Vorstellungen, dass technische
Dinge oder Verfahrenspraktiken erstens ausschließlich menschliche
Produkte oder Handlungen seien und dass der technische Fortschritt
seine volle Entwicklung zweitens erst in der Technologie der europäischen Moderne erreicht habe. Einen dritten Faktor, der den Blick auf
einen egalitäreren Begriff der Technik für lange Zeit verstellte, sieht
der Autor im weitgehenden Ausschluss der Körpertechniken aus den
frühen technikphilosophischen Diskursen. In Auseinandersetzung mit
zeitgenössischen philosophischen Positionen sowohl kontinentaler
als auch analytischer Prägung entwickelt Groß Alternativen zu den ausgemachten Exklusionen und verortet in der damit anvisierten Neugewichtung des Verhältnisses von Natur, Technik und Körper die Chance
für konstruktivere Selbst- und Weltverhältnisse.
Eine von dem Forschungsfeld der ecology of number inspirierte
kritische Perspektive auf die Zahl- und Zählsysteme der westlichen
Wissenschaften und die epistemische Wirkmacht ihrer Standardisierungs- und Formalisierungsverfahren entwickelt der Beitrag von Anna
Echterhölter ausgehend von einer Betrachtung der Fischereitechniken auf Watom, einer der damaligen deutschen Kolonie Papua-Neuguinea vorgelagerten Insel. Ihr Augenmerk gilt dabei den Milieuschilderungen technischer Geräte, die in den minutiösen Berichten des
Missionars und Teilzeit-Ornithologen P. Otto Meyer aus dem Jahr 1913
17
18
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
mit Details zu spirituellen Praktiken angereichert waren, welche die
Herstellung und den Gebrauch von Reusen, Netzen, Haken, Schwimmern, Tauen und anderen Gerätschaften bei den Tolai informierten.
Mit den sogenannten Uferlandstrecken, anhand von Taulängen
bemessenen Küstenverläufen, legt der Beitrag den Akzent auf eine
indigene Metrik, die an der konkreten topografischen Umgebung der
Insel orientiert war, dabei aber den etablierten wissenschaftlichen
Vermessungsregimen der Kolonisatoren in puncto Exaktheit in nichts
nachstand. Die Messung in Uferlandstrecken gilt Echterhölter als
exemplarischer Fall der aus der Ethnomathematik hervorgegangenen
Unterdisziplin der Ökologie der Zahl, die an situierten Praxiszusammenhängen, konkreten Gebrauchsanalysen, der Empirie von Handlungsumgebungen, kurz: an den je spezifischen Umweltzusammenhängen numerischer Systeme orientiert ist.
Eine kunsthistorische und -theoretische Perspektive auf die
Sphäre der Technik wird von Sebastian Egenhofer eröffnet. In der
exemplarischen Analyse zweier künstlerischer Arbeiten von Herkules
Segers und Sam Lewitt geht sein Beitrag der Frage nach dem Alteritätsbezug von Technik und Kunst nach. Dabei bestimmt Egenhofer
das Andere der Kunst und Technik vorläufig als Natur, auch wenn er
gleichzeitig festhält, dass es keine von der Natur unabhängige Kunst
und Technik gebe. Während die Technik jene Naturprozesse, auf
deren Grundlage sie sich einrichtet, auf mehr oder weniger gewaltsame Weise kanalisiert, einhegt und wiederholbar macht, wird der
Kunst dagegen gerne ein gewaltloser Kontakt mit der Natur, dem
Anderen oder dem Außen attestiert. Diesem romantischen Schema
setzt Egenhofer eine nüchternere, systemtheoretische Differenzierung des Alteritätsbezugs von Technik und Kunst entgegen: Auch die
Kunst kanalisiert, spaltet, filtert etc. Im Gegensatz zur Technik ist der
Systembezug, den sie leistet, aber nicht physisch-realer, sondern
kommunikativer und darstellender Natur. Die damit gewonnene Distanz erlaubt es der Kunst, wie Egenhofer hervorhebt und mit Segers
und Lewitt vorführt, die historisch je spezifische Beziehung von System und Systemaußen, von Identität und Alterität zu reflektieren und
zu modellieren. Nicht zufällig sind seine künstlerischen Beispiele
dabei aus dem 17. Jahrhundert und der Gegenwart gewählt und markieren damit zwei Eckdaten einer Epoche, in der das kapitalistische
Wirtschaftssystem zur vollen Entfaltung gekommen ist und jedes
Außen zu annihilieren droht.
Der Kapitalismus und die ihm korrespondierende KontrollgeHui. Im
sellschaft bilden den Ausgangspunkt des Aufsatzes von Yuk Hui
Anschluss an Deleuze rückt er darin den ursprünglich technologisch
geprägten Begriff der Modulation ins Zentrum seiner Überlegungen
und führt ihn zunächst als eine neue Form der Gouvernementalität
ein, die nicht länger nach einer Logik des Einschlusses (Krankenhäuser, Kasernen, Schulen etc.) sowie der direkten Prägung und Formung
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
verfährt, sondern der indirekten, flexiblen und variablen Steuerung
und Kontrolle. Mit Blick auf seine Genealogie verfolgt Hui den Begriff
der Modulation in einem zweiten Schritt zurück in Simondons technologisches Denken, um im Anschluss dessen Relevanz für die gegenwärtige technologische Kultur herauszustellen. Abschließend stellt
Hui eine mögliche Wiederaneignung der positiven Potenziale des
Modulationsbegriffs zur Diskussion.
Sektion II: Kontaktzonen und Subjektivierungen
Auch wenn technologische Entwicklungen stets mit der Möglichkeit
einhergehen, für fragwürdige machtpolitische Zwecke missbraucht
zu werden, unterläuft die immanente Vielfalt des Technischen jedes
einseitige Werturteil. Eine kritische Positionierung gegenüber der
Sphäre der Technik und Technologie sollte sich daher weniger zwischen Technikpessimismus und Technikfaszination entscheiden
müssen, als vielmehr zur Unterscheidung heterogener technologischer Tendenzen und ihrer Implikationen beitragen. Eine in diesem
Sinne fruchtbare Differenzierung mag in der auf Peter Sloterdijk
zurückgehenden und von Frédéric Neyrat aufgegriffenen Gegenüberstellung von Allotechnologien einerseits, Homeotechnologien andererseits ausgemacht werden:
1. »on the one hand, ›allotechnologies,‹ which name a violation of
the earth, and lead to the ›destruction of primary materials.‹ The
allotechnologies are applied from the outside, they are exercized by a subject (a master) who applies his power to an object
(a subordinate). [...]
2. on the other hand, ›homeotechnologies‹: developed based on
the paradigm of information, the ›thought of complexity‹ and
›ecology,‹ these technologies entail a strategy of ›cooperation,‹
of ›dialogue‹ with nature.« 28
Ganz im Sinne der Unterscheidung von Allo- und Homeotechnologien
differenziert auch der Ökologe André Gorz zwischen »Technologien
des Einschlusses« einerseits und »offenen Technologien« andererseits.29 Dabei sind es die »Technologien des Einschlusses«, die in seinen
Augen auf eine radikale Monopolisierung aller Fertigkeiten und Vermögen hinauslaufen: eine Monopolisierung, die mit dem ungehemmten
Kapitalismus der Gegenwart synonym ist. Im Hinblick auf die offenen
Technologien andererseits rücken wir in einen weiter gespannten
»posthumanen« Diskurs vor, in dem sich neuartige Kontaktzonen und
Subjektivierungsweisen entfalten.30 N. Katherine Hayles hat diese
jüngst auf den prägnanten Begriff der »cognitive assemblages«
gebracht und damit Verbünde biologischer und technischer Kognition
bezeichnet, die dadurch charakterisiert sind, dass sie ohne Bewusstsein und bewusste Wahrnehmungen agieren.31 Den umweltlichen
Aspekt dieser vernetzten Assemblagen haben Alexander Galloway
und Eugene Thacker mit der Formel des »elemental« beschrieben:
19
20
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
»Networks are elemental, in the sense that their dynamics operate at levels ›above‹ and ›below‹ that of the human subject. The
elemental is this ambient aspect of networks, this environmental
aspect – all the things that we as individuated human subjects or
groups do not directly control or manipulate. The elemental is
not ›the natural‹, however (a concept that we do not understand).
The elemental concerns the variables and variability of scaling,
from the micro level to the macro, the ways in which a network
phenomenon can suddenly contract, with the most local action
becoming a global pattern, and vice versa. The elemental requires us to elaborate an entire climatology of thought.« 32
Vor diesem Hintergrund bildet die perspektivische Verschiebung von
der Äußerlichkeit der Umgebung hin zur »Extimität«33 des Milieus einen
zentralen Einsatzpunkt, der sich diskurstheoretisch nicht zuletzt in der
terminologischen Ersetzung des Paares Organismus / Umgebung
durch das Paar Individuum / Milieu widerspiegelt. Im Unterschied zum
organischen Modell, das den Organismus als ein in sich abgeschlossenes Ganzes auffasst, welches als eine Art Gottesurteil schlicht hinzunehmen und an den extensiven Grenzen seines Körpers ablesbar ist,
nimmt das milieutheoretisch gefasste Individuum den Austausch- und
Umschlagsort, die von Donna Haraway und Cary Wolfe sogenannte
Kontaktzone, einer nie gänzlich abgeschlossenen Koevolution ein.34
Der Aufsatz von Marie-Luise Angerer setzt bei den porös
gewordenen Grenzen zwischen natürlichen und artifiziellen Individuen an. Die daraus hervorgehenden hybriden Körper, Cyborgs im
Vokabular Haraways, verortet Angerer nicht in einer nahenden
Zukunft, sondern im Hier und Jetzt. Weniger als autopoietisches,
Energie austauschendes System, denn als informationsverarbeitender »biomediated-body« verstanden, sind es die zunehmenden informationstechnischen Verschaltungen, die den Körper in ein komplexes organisch-technisches Milieu einlassen. Auch für das informationstechnisch gewandelte Verhältnis von Körper und Milieu bleibt das
Empfindungsvermögen, das Angerer in eine quantitative, bewusste
(sensing) und eine qualitative, nichtbewusste (affecting) Dimension
differenziert, von zentraler Bedeutung. Die höchst brisante Frage, die
sie damit aufwirft und diskutiert, betrifft die Möglichkeiten und Konsequenzen der technologischen Umwandlung von affecting in sensing. Die technomedialen Konverter geraten damit als eine Art nach
Außen gestülpte Psyche in den Blick und erfordern ein radikales
Umdenken der Kategorien des Bewussten und Nichtbewussten
sowie der damit verknüpften Prozesse der Subjektivierung.
Tomšič, der in seiEine verwandte Problematik adressiert Samo Tomšič
nem Beitrag das biologisch informierte Konzept des extended organism ins Verhältnis zur psychoanalytisch motivierten These eines
extended subject setzt. Dabei legt er den Fokus nicht wie Angerer auf
die informationstechnisch geregelten Zonen des Nichtbewussten,
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
die Körper und Milieu miteinander verschalten, sondern auf das
Unbewusste als Emergenz des Denkens aus der Selbstüberschreitung des Körpers. Mit Jacques Lacan situiert Tomšič die Ausdehnung
des Denkens im Kontext der Sprache: als metonymisches Zerfließen
des Subjekts entlang der Signifikantenkette einerseits, als durch den
Signifikanten vollzogenen Schnitt andererseits, der im lebendigen
(physiologischen, biologischen) Körper einen symbolischen (libidinösen, kulturellen) Körper hervorbringt. Auf diese Weise konstituiert sich
das Subjekt des Unbewussten als Außer-sich-selbst-Seiendes und
gehorcht dabei einer räumlichen Logik, die Tomšič mit derjenigen des
Milieus parallelisiert. Weder innen noch außen, beschreibt er das
Milieu der Subjektivierung damit als eine Zone der Extimität, die der
Differenz zwischen Innen und Außen zuallererst stattgibt, sie aufrechterhält und gleichsam als provisorische enthüllt.
Milieus der Individuation und Subjektivierung stehen auch im
Zentrum des Aufsatzes von Angelika Seppi,
Seppi der den ökosophischen,
technologischen und ästhetischen Motiven nachgeht, die Deleuze und
Guattari in Tausend Plateaus zu einer »Universalgeschichte der Kontingenz« verspannen. Einen besonderen Fokus misst sie dabei den
Konzepten des Ritornells und der Maschine bei. Gegen die apriorische
Auffassung von Raum und Zeit als reinen Anschauungsformen veranschlagt die ökosophische Idee des Ritornells die »pulsierte Zeit« und
den »bewohnten Raum« als Existenziale jeglicher Individuation. Das
ästhetische Paradigma, das sich daraus ableitet, konfrontiert Seppi mit
einem auf den ersten Blick gegenläufigen maschinellen Paradigma.
Wie der Beitrag aufzeigt, ist der Begriff der Maschine bei Deleuze und
Guattari aber weder als Höhepunkt des technologischen Fortschritts
noch im technizistischen oder mechanischen Sinn misszuverstehen.
Die maschinelle Komposition heterogener Elemente steht vielmehr
am Anfang jeder Geschichte. Sie gehorcht weder einem organischen
Schema noch einem technischen Determinismus, sondern artikuliert
sich ihrerseits als kontingentes oder freies und in diesem Sinne nicht
minder ästhetisches Zusammenspiel.
Stephan Gregory untersucht in seinem Beitrag die metaphorischen Untiefen »feuchter Beschreibungen« des Verrats und damit
jene im Genre des Agenten- und Spionagethrillers entsponnenen Milieuwirkungen, die sich – jenseits von Machtkalkülen, politischen Schattengefechten und strategischer Berechenbarkeit – an das Ereignis
des Verrats und die Figur des Verräters binden. Bewusst legt er damit
den Akzent auf Innenperspektiven und subjektive Wahrnehmungen,
die den Verrat ebenso wie den Verräter erst hervorbringen und ihn in
ihrem durch innere und äußere Operationen der Verstellung geprägten
Werden offenlegen. In Gregorys Milieu der Verblendung, die ein Spiel
mit dem Schein und ein Fest der Zeichen ist, geraten die Kontaktzonen
zwischen Subjekt und Umwelt in den Bann mimetischer Anähnelung,
anamorphotischer Verzerrung, psychotischer Depersonalisierung,
21
22
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
einer durch vielfältige Zeichenkonflikte bis zur Unkenntlichkeit verstellten Identität, die sich in der Drohung, enttarnt zu werden, in ihrer
Umwelt auflöst.
Den literarischen Modellierungen von Schutzmilieus geht
Michael Cuntz in seiner Analyse von Rückzugs- und Abkapselungsszenarien bei Jean-Jacques Rousseau, Adolfo Bioy Casares und
Michel Houellebecq nach und stellt mit der Durchlässigkeit und Filterfunktion des Milieus eine milieutheoretische Grundoperation zur Diskussion. Jenseits der motivischen Verbindung, welche die Betrachtungen zu Rousseaus Die Träumereien des einsamen Spaziergängers
(1782), Bioy Casares’ Fluchtplan (1945) und Houellebecqs Die Möglichkeit einer Insel (2005) mit dem Topos der (einsamen, glückseligen,
Straf- oder Gefängnis-) Insel teilen, weisen sie, mehr oder weniger
radikal, die desaströsen Konsequenzen auf, die sich mit technosozialen Formen des Milieuschutzes verbinden. Ist die aus Rousseaus
Rêveries ausgelesene Vervielfältigung literarischer Schutzmilieus
noch mit dem Versprechen von Weltharmonie verbunden, so führt die
Versuchsanordnung, die Bioy Casares auf seiner Gefängnisinsel
durchspielt, zu einem vollständigen Kollaps sämtlicher Milieueigenschaften und -funktionen. Houellebecqs Möglichkeit einer Insel knüpft
hieran nahtlos an, wenn er die Transformation der globalen Umwelt im
Ende der bisherigen Spezies Mensch kulminieren lässt.
Auf die Aktualisierung einer in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts entstandenen biologischen Theorie von Organismus
und Milieu zielen Rebekka Ladewigs Ausführungen zur »negativen
Umwelt«, die vor dem Hintergrund der Destruktionserfahrung des
Ersten Weltkriegs situiert sind. Ausgehend von experimentellen Studien, die Kurt Goldstein über viele Jahre an hirnverletzten Soldaten
durchführte, zeichnet der Beitrag die genealogischen Linien eines
Milieubegriffs nach, der aufs Engste an die neurologisch eingeschränkten Verhaltensgrammatiken des Individuums gebunden ist
und damit gleichsam aus den Kriegsverletzungen des Organismus
hervorgeht. Zugleich drückt sich in diesen neuen, durchaus bemerkenswerten Verhaltensformen ein je individuelles Vermögen der
Adaption an eine mit negativen Reizen ausgestattete Umwelt aus. Mit
den rekonstruierten Experimenten zum taktilen Erkennen zeigt Ladewig zudem einen aisthetischen Grundaspekt des Umweltbezugs auf,
der die Grenzverläufe zwischen greifbaren und begreifbaren Anteilen
der Umwelt als affektive Abwehr einer Katastrophenreaktion des
Organismus vermessbar macht.
Sektion III: Bilder und Medien
Radikal anders als in der holistischen Sicht Goldsteins stellt sich der
Zugriff auf das Verhalten des Menschen im Zeichen digitaler Medientechnologien des 21. Jahrhunderts dar. Shoshana Zuboff etwa sieht in
letzteren die Voraussetzung für eine Umwandlung menschlicher
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
Erfahrungen in »Verhaltensdaten«, die zu einem hoch gehandelten
Rohstoff des Überwachungskapitalismus werden und geradewegs in
eine neue Form der biogovernance führen.35 Die eminent politischen
Fragen, die diese neuartigen Zugriffe auf Körper und Verhalten des
Menschen aufwerfen, sind im größeren Zusammenhang der medientechnologischen Umwälzungen des 21. Jahrhunderts zu situieren.
Gebunden an die Verbreitung von Netzwerktechnologien, die im Zeichen distribuierter oder verteilter Kognition darauf angelegt sind,
technokognitive Systeme zu einer Technosphäre zusammenzuschließen, entsteht ein neuer Typus von Medien und damit eine neue Konfiguration des Medialen.
Diese Umweltmedien oder »environmental media« zeichnen
sich dadurch aus, die einst klaren Konturen des Objekthaften hinter
sich zu lassen und in die »computational environments« heutiger
Lebenswelten zu diffundieren bzw. vollständig in einer »calculative
ambience« 36 aufzugehen. Konnte Hans Blumenberg die technische
Welt Anfang der 1960er–Jahre noch als klar identifizierbare »Sphäre
von Gehäusen, von Verkleidungen, unspezifischen Fassaden und
Blenden« bestimmen,37 eine Definition, die deutlich die Kennzeichnung der Blackbox trägt, zeichnet sich die Technologie des 21. Jahrhunderts gerade durch ein »movement of computation out of the box
and into the environment« aus.38 Nach einer Phase der Miniaturisierung technischer Geräte, die ganz der in den frühen 2000er-Jahren
geprägten Design-Formel »S-H-E« (shrink, hide, embody) gehorchte
und in den ersten iPod-Generationen ihre wohl vollkommenste Gestaltung erfuhr,39 sind medientechnische Operationen zwischenzeitlich in
unsere Umweltverhältnisse ein- und in ihnen aufgegangen. Sie betreffen damit alle und jeden, und dies umso mehr, als sie der bewussten
Wahrnehmung allzu häufig entzogen bleiben.
Der amerikanische Medienkünstler und -theoretiker Jordan Crandall hat die in jüngster Zeit viel beschworenen Formen präkognitiver,
nicht-bewusster Wahrnehmung, die aus den zeitgenössischen Medientechnologien evolvieren (bei ihm aber ganz konventionell an den Menschen gebunden bleiben), als Spielart eines »mathematischen Sehens«
beschrieben: »Through a technologically enhanced perception, a
mathematical seeing, patterns come into view that previously could not
be seen by the naked eye, in ways that augment, or occlude, traditional
observational expertise and human intuition.«40 Wie Crandall bemerkt,
vermögen die Muster, die durch die so geartete »calculative ambience«
zur Erscheinung gebracht werden, unsere gewohnten Wahrnehmungsweisen nicht nur zu erweitern, sondern auch zu verstellen oder ganz zu
verschließen. Mit Blick auf Crandalls mathematisches Sehen liegt es
nahe, von einer neuen »Krise der Anschauung« zu sprechen. Deren historische Variante, die sich in den 1930er-Jahren Bahn brach, war mit
dem im Laufe des 19. Jahrhunderts manifest gewordenen Verlust der
Geometrie als Grundlage der Mathematik verbunden,41 die Gaston
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Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
Bachelard in seiner wissenschaftspsychologischen Diagnose auf die
»philosophischen Dilemmata der Geometrie« und ihre methodischen
Implikationen zurückführte.42 Sie ist damit auf einen weitreichenden
epistemischen Bruch zu beziehen, der u.a. von Ernst Cassirer als eine
aus der Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften
abgeleitete Umstellung von (dinghaften) Substanzbegriffen auf (relationale) Funktionsbegriffe beschrieben wurde.43 Die aktuelle Anschauungskrise gründet demgegenüber in der totalisierenden Vereinnahmung einer algorithmischen Vernunft.44 Sie ist gebunden an die Logik
des Digitalen, die sich in den zeitgenössischen Medientechnologien
perpetuiert.
Als »sensitiv« und »smart« ausgezeichnet, operieren diese
Medien im Modus des tracking, tagging oder sensing – Prozessen, die
unsere interfacegesteuerte und durch die Bedienung visueller Bildschirmoberflächen bestimmte Interaktion mit technischen Medien
inzwischen immer schon begleiten. Mit deren rasanter Proliferation
scheinen sich auch die Zugriffsverhältnisse zwischen Körper und
Umwelt zusehends zu verkehren und auf die Seite einer sensorisch
durchwirkten Umwelt zu verschieben.45 Ihre historischen Vorläufer
finden diese Einwirkungen auf den (menschlichen und tierischen)
Körper allerdings bereits in den apparativ-experimentellen Anordnungen, die die physiologischen Laboratorien des 19. Jahrhunderts
bevölkerten. In den Experimentalsystemen des 19. Jahrhunderts etablierte sich durch die Verschaltung von Instrumenten, Apparaten und
Körpern ein Zugriff auf das Lebendige und dessen vitale Funktionen
wie Blutdruck, Puls oder Muskelzuckungen, die in grafischen Kurven
aufgezeichnet wurden und damit einer Bildgebung des »inneren Milieus« stattgaben.46 /
In dieser historischen Fluchtlinie ist mit Étienne-Jules Marey eine Figur aufzurufen, in welcher der medientechnische Einsatz auf den Körper in Form der chronofotografischen Analyse mit einem Zugriff auf die Umwelt konvergiert. Mareys experimentelle Aufnahmen von bewegtem Wasser entstanden in der Stazione
Zoologica Anton Dohrn in Neapel und damit an einer der wichtigsten
Wirkungsstätten Uexkülls. Uexküll hatte seinerseits die Technik der
Chronofotografie bei Marey in Paris gelernt, um damit »dem Seeigel
spürbar auf die Pelle zu rücken«.47 Als invasiv sind insofern schon die
historischen Zugriffe auf die bis dato unsichtbaren Umwelten zu charakterisieren. Der Einsatz bildtechnischer Verfahren informierte indes
nicht nur die empirischen Studien Uexkülls, sondern durchaus auch
dessen theoretische Konzepte – etwa das der subjektiven Eigenzeit,
das wesentlich durch die filmische Bildtechnik der Zeitlupe bzw. des
Zeitraffers inspiriert war.48 Wenn Uexkülls Begriffe der Umwelt und
»optischen Merkwelt« ihren Weg in Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz finden, um dort das Medium des Films als »Vertiefung der Apperzeption« zu kennzeichnen, werden Umwelt- und Medientheorie damit
an einer entscheidenden Stelle zusammengeführt.49 Die Beiträge der
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Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
25
Sektion »Bilder und Medien« widmen sich dieser Schnittstelle und
den mit ihr verbundenen Entwicklungen.
Kathrin Friedrich untersucht in ihrem Beitrag mit dem Gegenstand des virtuellen Zauns eine Anwendung aktueller Tracking-Technologien, die im Bereich der satellitenbasierten Überwachung und
(Fern-)Steuerung von Rinder- und Schafherden zum Einsatz kommt.
Mittels eines elektronischen Halsbands, das wahlweise Audio- oder
Elektroschocksignale sendet, werden Tiere individuell konditioniert,
ihr Bewegungsradius lässt sich dabei über den Zugriff auf ein mobiles Interface und die Verknüpfung mit GPS-Daten aus der Distanz
manipulieren und kontrollieren. Der zentrale Aspekt der geomedialen
Praxis des virtual fencing besteht, wie der Beitrag herausstellt, in
einer direkten Verschaltung von Physis und Digitalität, in der die
Zugriffsmöglichkeiten adaptiver Umweltmedien auf das Lebendige
ihre jüngste Zuspitzung erfahren. In der operativen Anpassung dieser
Marey’scher Sphygmograph zur dauerhaften Aufzeichnung von
Pulsfrequenzen als Kurven
Étienne-Jules Marey inmitten seiner Erfindungen (Sphygmograph,
Registriergeräte, Vogelflugmodell, Projektor, Filmkamera), um 1900
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Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
verschiedenartigen Entitäten emergiert ein interventionell gestaltetes, technologisches Milieu, das nicht länger auf die Hardware materieller Bezäunungen angewiesen ist.
Während Friedrich die technologische Verschaltung von Wahrnehmungs- und Handlungsweisen in ihrem direkten Zu- und Eingriff
auf den tierischen Körper analysiert, widmen sich Kate Chandler und
Nina Franz in ihrer Diskussion über zeitgenössische Bildschirmkulturen visuell vermittelten Wahrnehmungsoperationen im Kontext ferngesteuerter Technologien. Damit verschiebt sich der Fokus auf jene
Medien und medialen Oberflächen, die in Form von interaktiven Bildschirmen und Interfaces Informationen visualisieren, zugleich aber
auch filtern, verschleiern und abschirmen. Die damit verbundenen
Asymmetrien von Sichtbarkeit und Handlungsmacht werfen drängende Fragen nach der operativen Realität, nach Zugängen zu und
Ausschlüssen aus dieser Realität und damit nach der Teilhabe an je
spezifischen Öffentlichkeiten oder Teilöffentlichkeiten auf. Unter dem
Begriff der Screen Publics erörtern Chandler und Franz diese Fragen
in einem Dialog, der sie von den historischen Anfängen der ScreenTechnologie in den Echtzeitbildschirmen der Radar-Displays im Zweiten Weltkriegs bis hin zu den gegenwärtigen, über Google Maps und
Echtzeit-Videokommunikation verschalteten Displays zur Steuerung
unbemannter Militärdrohnen führt. Als offene Herausforderung stellen
die Autorinnen die Herstellung einer kritischen Bildschirm-Öffentlichkeit heraus.
Mit einer umfassenden Betrachtung zu den Milieufunktionen
des Glases knüpft der Beitrag von Matthias Bruhn an die Kontakt-,
Abgrenzungs- und Vermittlungsfunktionen medialer Interfaces und
Oberflächen an. Ausgehend von der denkwürdigen filmischen Inszenierung der Glasscheibe in dem Kinofilm Arrival, die als Zeichenträger
für den Informationsaustausch und Membran für den buchstäblichen
Kontakt mit einer außerirdischen Lebensform steht, lotet Bruhn die
ambivalenten Metaphoriken des Glases als transparentes, kristallines,
schleierhaftes oder abdichtendes Medium aus. Gilt sein Augenmerk
dabei zunächst verschiedenen medientechnischen Konfigurationen
der Sichtbarmachung – dem Diorama, Aquarium, Duchamps Großem
Glas, dem Gläsernen Menschen und Glasarchitekturen wie dem Crystal Palace, die je spezifische Formen von Sichtbarkeit inszenieren – ,
liegt ein weiterer Akzent der Ausführungen auf den fluiden Milieus des
Wassers in Kombination mit der beobachtenden Kamera. Mit den
experimentellen Standbildaufnahmen, die Étienne-Jules Marey von
bewegtem Wasser machte, führt Bruhn uns u.a. an den historischen
Anfangspunkt eines systematischen bildmedialen Zugriffs auf die
Umwelt zurück.
Die im Akt der sinnlichen Wahrnehmung vollzogene Gestaltung
der Umwelt, wie Uexküll sie beschrieben hat, ist Ausgangspunkt der
Auseinandersetzung mit den bild- und filmtechnischen Umwelten
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
Jacques Lacans, die Claudia Blümle in ihrem Beitrag entfaltet. Wie
Lacan schon im Hinblick auf das Spiegelstadium konstatiert, ist der
Umweltbezug des Menschen an eine alles andere als harmonische
Spaltung geknüpft, an eine dem Subjekt eingeschriebene Zwietracht,
die gleichsam vom Vorrang des Blicks (des Anderen) gegenüber der
vermeintlichen Herrschaft des (eigenen) Auges herrührt. Diese von
Lacan anhand der Anamorphose vorgeführte Konstellation wendet
Blümle auf Uexküll selbst zurück, wenn sie anhand der berühmten
Illustrationen, die seine Streifzüge durch die Umwelten von Tieren
und Menschen begleiten, die Blicke der Bild- bzw. Umweltobjekte
herausstellt. Mit der Schlussszene von Federico Fellinis La dolce vita
führt Blümle schließlich eine filmtechnische Inszenierung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Subjekt und Milieu an, die uns mit
dem Blick eines auf dem Meer schwimmenden Dings konfrontiert,
noch bevor unser Auge seiner habhaft zu werden vermag.
Die Mathematik als Organismus und Milieu ihrer selbst herauszustellen, ist Ziel des Beitrags von Michael Friedman.
Friedman In einer mathematikhistorischen Perspektivierung rekonstruiert er die wechselseitigen Relationierungen zwischen Biologie und Mathematik, wie sie sich
einerseits in der Mathematisierung des Lebendigen niederschlugen,
etwa in Alan Turings mathematischem Modell der Embryogenese von
1952, und andererseits in eine zunehmende Biologisierung der
Mathematik einschrieben. Wie Friedman anhand der aufeinander folgenden mathematischen Leitbilder von der Maschine über die Architektur bis zum Organismus aufzeigt, übernimmt die Mathematik nach
und nach Züge gerade jener Wissenschaft des Lebendigen, die ihr
gewöhnlicherweise unversöhnlich gegenübergestellt werden. Mit
den mathematischen Konzeptualisierungen von Felix Klein, David
Hilbert und Nicolas Bourbaki gelangen diese Zuschreibungen Mitte
des 20. Jahrhunderts an einen Punkt, an dem die Mathematik als
lebendiger Organismus gefasst und wesentlich durch den dynamischen Prozess ihres Werdens ausgezeichnet wurde.
Sektion IV: Bio- und Geopolitiken
Die im Band verfolgte Blickwendung von der Ökologie der Natur zu einer
Vielzahl nicht-natürlicher Ökologien und gemischter Milieus reagiert
nicht zuletzt auf die Diskurse rund um das sogenannte Anthropozän. An
diese neue geochronologische Epoche ist die Ergänzung der Litho-,
Atmo-, Hydro- und Biosphäre um die Technosphäre gebunden,50 die
mehr und anderes ist als bloß ein Derivat anthropogener technischer
Objekte und Prozesse. Peter K. Haff hat die alles entscheidende Differenz in einer Verschiebung der anthropologischen (Innen-)Perspektive
zu einer geotechnologisch formierten (Außen-)Perspektive beschrieben und dabei auf einen allgemeinen, allzu menschlichen Irrtum hingewiesen: »Because we design, manufacture, deploy and maintain many
of the parts, or ›artefacts‹, of which technology is composed, and then
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Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
network them together to obtain a desired function, it is natural for
humans to see the technosphere from the ›inside‹ and to think of it as
a purely derivative phenomenon, dependent entirely on humans for its
creation and continued existence.« 51 Technosphärische Aktivität ist
demgegenüber wesentlich als Eigenaktivität zu fassen. Sie ereignet
sich in einem autonom ausgebildeten technischen Milieu, umfasst
natürliche wie nicht-natürliche Komponenten und reicht damit weit
über den Menschen hinaus.
Gleichwohl betreffen technosphärische Prozesse nicht nur den
Planeten selbst, sie unterwerfen auch und insbesondere die Geschichte des Menschen auf der Erde einem fundamentalen Wandel.
Bio- und geopolitische Aspekte sind dabei gleichermaßen betroffen
und stets aufeinander bezogen. Ihre historischen Fluchtlinien verlaufen von der Humangeografie Carl Ritters, der »die menschliche
Geschichte nicht ohne die Bindung des Menschen an den Boden«
und diesen u.a. auch als »biologisches Erkenntnisobjekt« begreifen
wollte,52 über die Anthropogeografie Friedrich Ratzels geradewegs in
die bio- und geopolitischen Katastrophen des Dritten Reichs.
Gerade mit Blick auf die von Haff problematisierte Immanenz ist
darüber hinaus festzuhalten, dass die Technosphäre keineswegs auf
die Oberfläche der Erde begrenzt bleibt. Wenngleich sie diese umhüllt,
reicht sie doch weit über den Erdball hinaus. Die Verschränkung technologischer, bio- und geopolitischer Aspekte wird umso augenfälliger,
wenn man bedenkt, dass einer der Ausgangs- und zugleich Fluchtpunkte der zeitgenössischen biotechnologischen Machbarkeitsphantasien gerade in der Raumfahrtmedizin auszumachen ist. Um
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Earth’s City Lights, Daten erhoben von DMSP zwischen 1994 und
1995
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
den territorialen Ausgriff in den Kosmos zu ermöglichen (welcher bei
Humboldt noch als »Synthese der Erkenntnisse über das Leben auf
der Erde und die Beziehungen des Lebens zum physischen Milieu«
figurierte),53 wurde die Entfesselung einer raumfahrtmedizinischen
Entwicklung nötig, die auf die Einrichtung lebenserhaltender Atmosphären in einem radikalen Außen der Erde zielte und damit die
Gestaltung des menschlichen Lebens und die seines Lebensraums in
eins setzte.54 Nicht zufällig ist der*die Cyborg eine Schöpfung des
Space Age, und noch weniger überraschend ist es, dass die beiden
Väter und Namensgeber dieser hybriden Figur in ihrer Erörterung der
Gestaltungsfragen die gezielte Veränderung der Organfunktionen
des Menschen einer Einrichtung irdisch-lebenserhaltender Atmosphären im Weltraum vorzogen: »Altering man’s bodily functions to
meet the requirements of extraterrestrial environments would be
more logical than providing an earthly environment for him in space.
Artifact-organism systems which would then extend man’s unconscious, self-regulatory controls are one possibility.« 55
In dieser exzentrischen Konfiguration erfährt die Relationierung zwischen Organismus und Milieu eine Akzentuierung, die für die
Lebenswissenschaften des 20. Jahrhunderts insgesamt als wegweisend herauszustellen ist. War dieses Verhältnis, wie einleitend
beschrieben, immer schon durch einen genuin technisch vermittelten Kräftekonflikt gekennzeichnet, so ist die Technologie bei Clynes
und Kline zu einem alles beherrschenden Moment geworden. Die
alte mechanistische Vorstellung, wonach die Einwirkungen des Milieus auf den Organismus als primär galt, erfährt hier eine technokratische Wendung, wenn diese Milieus hochtechnologisch auf- und ausgerüstet sind und die Technologie ihrerseits an das Leben selbst
angelegt wird.
In mehrfacher Hinsicht geht mit der Autonomie gegenwärtiger
technologischer Gefüge eine zunehmende Erosion vermeintlich klar
konturierter Grenzen einher: der äußeren Grenzen der Erde ebenso
wie der inneren Grenzen zwischen dem Individuum und seinem Milieu
oder der theoretischen Grenzen zwischen den »aus sich selbst wachsenden« Naturdingen einerseits und den »technisch hervorgebrachten« Kulturdingen andererseits. Damit scheint sich nicht zuletzt der
»große Unterschied« von Natur und Kultur und mit ihm die Architektur
westlicher Wissensbestände in ein immer durchlässiger werdendes
Netz von Verwandtschaften und lediglich graduellen Differenzen aufzulösen.56 Die technosphärische Aktivität, die sich der Verfügungsgewalt des Menschen auf ebenso listige Weise zu entziehen vermag wie
jeder vermeintlichen Teleologie, konfrontiert uns darüber hinaus mit
einer fundamentalen Desillusionierung: Nicht nur entlarvt sie den
Menschen als mehr oder weniger blinden Co-Passagier des Raumschiffs Erde, sie untermauert außerdem, dass die Reise von jeher ins
Ungewisse führte. So begrüßenswert sich die damit verbundene
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Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
Erschütterung des westlichen Anthropozentrismus ausnimmt, so
bedenklich erweist sich die von diversen technoökologischen Konstruktivismen im Umkehrschluss beschworene Allmachbarkeit. Auf
dem Spiel steht diesbezüglich nicht weniger als die Möglichkeit einer
politischen Entscheidung darüber, was gemacht werden soll und was
nicht – und zwar jenseits der Automatismen von blinder Entwicklungswut und ökonomischem Kalkül.57
Die in eminenter Weise politische Dimension des Milieu-Konzepts wird von einer Großzahl der Autor*innen dieses Bandes auf
implizite Weise mitverhandelt und bildet den expliziten Gegenstand
der Beiträge der vierten Sektion.
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Cyborg-Erfinder Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline mit
Ausdruck von Atemfrequenz, vorhergesagtem Puls und aktuell
vermessenem Puls eines Probanden, 1960
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
So beleuchtet Bernard Stiegler in seinen Ausführungen zur »Industrie der Spuren« die Unterwerfung des Politischen unter eine neue
Form der Ökonomie, die auf Big Data, Cookies, Tags und anderen
Technologien der Nachverfolgung beruht. Dabei ergänzt er die
durchgehende Ökonomisierung, Automatisierung und Industrialisierung unserer Existenzweisen um eine ebenso automatische,
nämlich algorithmische Form der Gouvernementalität, die auf der
Implementierung digitaler Formen der Kontrolle basiert. Damit entwickelt Stiegler die politischen Konsequenzen einer »Modulation
nach der Kontrolle«, deren technikphilosophische Implikationen insbesondere der Aufsatz von Yuk Hui adressiert. Die sogenannte
smartification, wie der Prozess der gegenwärtigen medientechnologischen Transformationen gerne bezeichnet wird, gibt Stiegler als
vorläufigen Höhepunkt einer umfassenden Proletarisierung zu
bedenken, die das 21. Jahrhundert – nach dem Verlust des savoirfaire im 19. Jahrhundert und des savoir-vivre im 20. Jahrhundert
– nunmehr mit dem Verlust des theoretischen Wissens konfrontiert und es damit als Zeitalter systemischer Dummheit zu stehen
kommen lässt.
Am Beispiel jüngster Entwicklungen in der Volksrepublik China
nimmt Bernd Bösel in seinem Beitrag eine Konkretisierung biopolitischer Kontrolltechniken vor. Maßnahmen wie die Internierung von
mindestens einer Million Uiguren und anderen Angehörigen muslimischer Minderheiten im autonomen Gebiet Xinjiang einerseits, die
stufenweise Einführung eines »social credit system« andererseits,
veranlassen den Autor zu einer Neubewertung der Frage der Milieukontrolle, wie sie der Psychiater Robert Jay Lifton in den 1960er-Jahren formuliert hat. Die diesbezüglich geprägten Begriffe von »brainwashing«, »mind control« und »Totalismus« zieht Bösel heran, um
die – nicht nur auf China beschränkten – Anzeichen eines digitalen
Totalitarismus zu diskutieren.
Ausgehend von dem CRISPR- (Clustered Regularly Interspaced
Short Palindromic Repeats) Verfahren, das die Erzeugung gentechnisch veränderter Organismen ermöglicht, nimmt der Beitrag von
Martin Müller den letzten großen Coup der zeitgenössischen synthetischen Biologie zum Anlass, um die darin vollzogene Verbindung von
angewandter Wissenschaft und Biopolitik einer kritischen Historisierung und Theoretisierung zu unterziehen. Dabei schlägt er vor, die
Institutionalisierung der synthetischen Biologie im Jahr 2004 als eine
dritte Proliferation der Biopolitik zu lesen, der die »Geburt der Biopolitik« um 1800 sowie die Erfindung des genetischen Codes in den
1940er-Jahren vorausgegangen waren. Entlang dieser drei historischen Marken zeichnet Müller die Entwicklung der modernen Biopolitik nach und stellt sie zugleich in den Kontext einer Ideologie der
technologischen Überschreitung und Machbarkeit, die im anthropozänen Terraforming zu kollabieren droht.
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Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
Um die Frage menschengemachter Welten kreist auch der Aufsatz von
Felicity D. Scott
Scott, wobei die Autorin den Blick von der Gestaltung des
Lebens auf der Erde auf die Diskurse der Weltraumkolonisation lenkt,
die in den 1970er-Jahren, aus ihren phantastischen und Science-Fictionhaften Anfängen herausgelöst, zum konkreten Gegenstand der Ingenieurswissenschaften wurden und in Jesco von Puttkamer einen vehementen Vertreter fanden. Die von Canguilhem als wechselseitige Auseinandersetzung gefasste Beziehung zwischen dem Individuum und
seinem Milieu liest Scott als missverstandene Legitimationsgrundlage
eines techno- und biopolitischen Zurichtungswillens, der selbst an
den Grenzen der Erde nicht Halt macht. Mit dem Diskurs um die Kolonisation des Weltraums zieht sie ein Extrembeispiel künstlicher
Umwelten heran, mit dem sie nicht zuletzt an die Frage danach erinnern will, wer die Zügel zur Gestaltung gegenwärtiger und zukünftiger
Umwelten in den Händen hält und wie dagegen ein Raum für eine egalitärere politische Mitbestimmung eröffnet werden könnte.
Mit dem Beitrag von Birgit Schneider kehren wir zu irdischen
Infrastrukturen zurück und wenden uns einer geopolitischen Fallstudie zu, die im Hinblick auf ein immer enger und leistungsfähiger, d.h.
schneller werdendes Funknetz der Verwandlung unserer Lebensräume in elektromagnetische Felder nachgeht. Den Fokus ihrer Darstellung legt Schneider auf die gestalterischen Strategien der Tarnung von Technik und ihrer Anähnelung an urbane Umwelten sowie
auf künstlerische Strategien und Interventionen der Enttarnung.
Anhand von Marshall McLuhans Konzept des Gegen-Environments
diskutiert die Autorin zudem die Frage nach den politischen Implikationen der Un- / Sichtbarkeit.
Seinerseits an der Begrifflichkeit von Environment und Gegenbzw. Counter-Environment orientiert, rekonstruiert der Beitrag von
Petra Löffler wesentliche Aspekte einer Geopolitik und Ästhetik nach
McLuhan. Dabei fragt sie insbesondere nach den Möglichkeiten,
spezifischen technologischen Umgebungen auf subversive Weise zu
begegnen, nach dem taktischen Einsatz der von McLuhan angerufenen Praktiken der Dislozierung und nach ihren zeitgenössischen geopolitischen Aktualisierungen. Die Arbeiten des Recherchekollektivs
Forensic Architecture werden von der Autorin dabei als beispielhafte
Artikulationen eines Counter-Counter-Environments vorgestellt.
Ästhetische Intervalle und Überkreuzungen
Nicht erst mit Blick auf die künstlerischen Prozesse der Sichtbarmachung verborgener Milieuzusammenhänge ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Milieu in mehrfacher Hinsicht immer
auch als eine ästhetische zu betrachten.
Erstens sind Milieufragen immer auch Fragen der Milieuwahrnehmung, der aisthesis. Dies wird insbesondere in den Arbeiten Uexkülls und Goldsteins deutlich. Wenn das Lebewesen, wie es Canguil-
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
hem in Bezug auf den mit Uexküll und Goldstein verbundenen Wandel
milieutheoretischer Grundlagen herausstellt, von der »Maschine, die
mit Bewegungen auf Reize reagiert«, zum »Maschinist[en], der mit
Handlungen auf Signale reagiert«,58 so ist der Übergang von Reiz und
Bewegung zu Signal und Handlung ein Effekt der Wahrnehmung. Sie
ist es, welche das materielle Kontinuum, die vermeintlich lückenlose
Kette von Milieureizen und individuellen Reaktionen, in ein Ensemble
von Intervallen auffaltet und so einen Abstand eröffnet, der im Sinne
Deleuzes als eine Art Zentrum der Indetermination fungiert.59 Erinnert
sei diesbezüglich an die schlichte, aber äußerst folgenreiche Beobachtung Uexkülls, dass das Lebewesen seiner physisch-geografischen Umgebung und ihrer theoretisch unbegrenzten Anzahl an Reizen lediglich einige wenige Merkmale entnimmt, die fortan seine spezifische Umwelt bilden. Während das Lebewesen also einem Großteil
potenzieller Reize gleichgültig gegenübersteht und diese gewissermaßen ohne Kenntnisnahme und Reaktion durch sich hindurchgehen
lässt, werden andere bemerkenswerte Reize isoliert und eben dadurch
zu Signalen. Betrifft die Isolation bemerkenswerter Reize die rezeptive
oder sensorische Seite des Lebewesens, werden auf der anderen,
reaktiven oder aktiven Seite die ausgeführten Reaktionen nicht mehr
unmittelbar mit der Einwirkung verknüpft, sondern qua Intervall zu aufgeschobenen Reaktionen und eben dadurch zu Handlungen. /
Sowohl hinsichtlich der rezeptiven oder sensorischen als auch hinsichtlich der reaktiven bzw. aktiven Seite kommt dem Lebewesen
damit ein bestimmtes Maß der Indetermination oder Freiheit zu. Die
Indetermination oder Freiheit des Lebendigen ist damit wesentlich als
aisthetische zu bestimmen.
Zweitens und in Hinsicht auf die techno-ästhetischen Milieus
des Menschen lassen sich Techniken und Technologien in der Fortsetzung der angezeigten Denkbewegung als eine Art Verstärker des
aisthetisch eröffneten Abstands betrachten. Die Filter und Falten der
Wahrnehmung verdoppeln sich damit in den Filtern und Faltungen
technischer Fertigkeiten, Objekte und Kunstgriffe verschiedenster
Art. Sie sind es, die dem anthropologischen Subjekt eine relative
Autonomie gewähren, auch wenn die technoästhetisch ermöglichte
Autonomie sich jederzeit in eine Heteronomie zu verkehren vermag.60
Aus den beiden angeführten Hinsichten ergibt sich drittens die
Möglichkeit einer Wiederannäherung jener beiden von Kant fein
säuberlich getrennten Bereiche der Ästhetik: der sinnlichen Wahrnehmung einerseits und der künstlerischen Produktions- und Rezeptionsprozesse andererseits. Beiden kommt aus milieutheoretischer
Perspektive ein genuin kreativer Anteil zu: Von den elementarsten
biologischen bis hin zu den elaboriertesten künstlerischen Formen
des Ausdrucks zieht sich eine Linie der évolution créatrice, in der sich
das Universum der Zwecke und Notwendigkeiten und dasjenige der
Freiheit von jeher überkreuzen.
• ••
33
34
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
Den vielfältigen Überkreuzungen nachzugehen, die sich am Konzept
des Milieus abzeichnen, ist eines der Grundmotive des vorliegenden
Bandes. Als seine Herausgeberinnen sind wir von einer Vielzahl offener Fragen ausgegangen. Gemeinsam mit den Autor*innen schlagen wir eine Vielzahl möglicher Antworten vor. Sie sind weder einstimmig noch universell, sondern vielstimmige und partikuläre Fragmente einer technologischen und ästhetischen Perspektivierung
des Milieus.
•
Merkwelt und Wirkwelt nach Jakob von Uexküll
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
Paul Klee: Bildnerische Gestaltungslehre: Anhang (Illustration zu
»Wege des Naturstudiums«), Feder auf Papier auf Karton, 33×21 cm
35
••
36
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
1 Vgl. https://www.worldometers.
info/coronavirus/ (zuletzt aufgerufen
am 29.3.2020). Worldometer besteht
aus einem internationalen Team von
Entwickler*innen, Wissenschaftler*innen und ehrenamtlichen Helfer*innen,
die das Ziel verfolgen, globale und für
das Zeitgeschehen relevante
Statistiken einem weiten Publikum
zugänglich zu machen. Die COVID19-Daten setzen sich aus den
entsprechenden Angaben offizieller
Berichte zusammen, die entweder
direkt aus den Kommunikationskanälen der jeweiligen Regierungen oder
indirekt aus lokalen und als vertrauenswürdig eingestuften medialen
Quellen stammen. Die Vertrauenswürdigkeit von Worldometer wird
ihrerseits von dem Johns Hopkins
CSSE, der Financial Times, der New
York Times u.a.m. bestätigt.
Da die Beiträge dieses Bandes lange
vor dem Ausbruch der
COVID-19-Pandemie entstanden sind,
konnte nur mehr in der Einleitung auf
die veränderte Situation Bezug
genommen werden.
2 Vgl. Roberto Esposito: Immunitas.
Schutz und Negation des Lebens,
übers. v. Sabine Schulz, Berlin / Zürich
2004 [2002].
3 Vgl. Ivan Krastev: »Seven Early
Lessons from the Corona Virus. Views
from the Council«, https://tinyurl.com/
ya4tlwkc (zuletzt aufgerufen am
29.3.2020).
4 Michel Foucault zufolge markiert
die Moderne den Übergang zwischen
zwei Formen der Souveränität: einer
vormodernen nekropolitischen, die in
der gewaltsamen Verfügung über den
Tod besteht, und einer modernen
biopolitischen, die in der gewaltlosen
Verwaltung des Lebens ihr Wesen hat.
Achille Mbembe zufolge reicht die
Foucault’sche Unterscheidung nicht
hin, um die modernen Formen der
Macht zu erklären, die vielmehr von
einem Fortbestand nekropolitischer
Techniken zeugen und vor allem im
Zusammenhang von Kapitalismus
und Kolonialismus zu situieren sind.
Wie Mbembe oder Saidiya Hartman
in Bezug auf die Sklaverei gezeigt
haben, war die Möglichkeit, menschliches Leben in ein Objekt wirtschaftlichen Austausches zu verwandeln,
für den Fortschritt kapitalistischer
Ökonomien essenziell. Die herausgestellte Verbindung zwischen Gewalt
und Souveränität einerseits, der
Freiheit des Subjekts und der freien
Zirkulation des Kapitals andererseits
wird auch im zeitgenössischen
Feminismus- und Transgender-Diskurs weiterverfolgt und auf die
Fortdauer sexueller Gewalt gegen
Frauen und geschlechtliche
Minoritäten hin diskutiert. Mit
Nekropolitik sind folglich der Ort und
die Funktion einer verallgemeinerten
Instrumentalisierung des (menschlichen ebenso wie tierischen und
vegetativen) Lebens und seiner
materiellen Zerstörung in Form von
Kriegen, gewaltsamer Wirtschaftspolitik, Rassismus, Sexismus, ökologischer Ausbeutung etc. angezeigt.
5 Erich Hörl: »Introduction to
General Ecology. The Ecologization of
Thinking«, in: Ders. (Hg.), mit James
Edward Burton, General Ecology. The
New Ecological Paradigm, London
2017, S. 1 — 75, hier S. 1.
6 Eine Übersicht über die Karriere
der Ökologie – ihren Status als
Teildisziplin der Biologie, als
Metawissenschaft und als gesellschaftliche Bewegung – bietet
Ludwig Trepl: Geschichte der
Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur
Gegenwart. 10 Vorlesungen, Frankfurt
am Main 1994.
7 Florian Sprenger: Epistemologien
des Umgebens. Zur Geschichte,
Ökologie und Biopolitik künstlicher
environments, Bielefeld 2019, S. 10.
Zu gemischten Milieus vgl. Maria
Muhle: »Mixed Milieus. Vom Vitalen
zum biopolitischen Milieu«, in:
Christina Wessely / Florian Huber (Hg.),
Milieu. Umgebungen des Lebendigen
in der Moderne, Paderborn 2019,
S. 35 — 48.
8 Georges Canguilhem: »Das
Lebendige und sein Milieu«, in: Ders.,
Die Erkenntnis des Lebens, übers. v.
Till Bardoux, Maria Muhle und
Francesca Raimondi, Berlin 2009
[1952], S. 233 — 279, hier S. 243.
9 Gilbert Simondon: L’individuation
à la lumière des notions de forme et
d’information, Grenoble 2005 [1964];
ders.: L’individuation psychique et
collective, Paris 1989; ders.: L’individu
et sa genèse physico-biologique,
Paris 1964; ders.: Die Existenzweise
technischer Objekte, übers. v.
Michael Cuntz, Berlin / Zürich 2012
[1958].
10 Bernard Stiegler: »Milieu«, http://
arsindustrialis.org/milieu (zuletzt
aufgerufen am 29.3.2020, eigene
Übers.). Die Unterscheidung
zwischen einer dem Organismus
äußerlichen Umgebung und einem
weder Innen noch Außen liegenden,
sondern intermedial gefassten Milieu
ist freilich nicht ausschließlich im
französischen Wissenschaftskontext
thematisiert worden, sondern auch
und insbesondere von Jakob von
Uexküll und Kurt Goldstein. Dazu
mehr im Folgenden.
11 Canguilhem, »Das Lebendige
und sein Milieu«, S. 233.
12 Ebd.
13 Vgl. Leo Spitzer: »Milieu and
Ambiance. An Essay in Historical
Semantics«, in: Philosophy and
Phenomenological Research, 3 (1942),
S. 1 — 42.
14 Canguilhem, »Das Lebendige
und sein Milieu«, S. 235f. (Hervorh.
i.O.). Newton wird an dieser Stelle
auch die Übertragung des Milieubegriffs von der Physik auf die Biologie
zugeschrieben. Der Lichtäther wurde
nämlich nicht nur in Hinsicht auf das
physikalische Problem der Lichtübertragung, sondern auch auf das
physiologische Problem des Sehens
diskutiert. Canguilhem bezieht sich
hier insbesondere auf Léon Bloch:
Les Origines de la théorie de l’éther et
la physique de Newton, Paris 1908.
15 Sowohl Lamarcks als auch
Darwins Positionen wären, wenn auch
mit je unterschiedlichen Vorzeichen,
von der hier dargestellten mechanistischen Prägung abzugrenzen.
Insbesondere Lamarcks Begriff des
Bedürfnisses problematisiert die
allzu einfache Auffassung einer
unmittelbaren Determination des
Individuums durch sein Milieu. Vgl.
hierzu Peter Berz: »Die Lebewesen
und ihre Medien«, in: Thomas Brandstetter / Karin Harrasser / Günther
Friesinger (Hg.), Ambiente. Das Leben
und seine Räume, Wien 2009,
S. 23 — 49.
16 Siehe hierzu die Beiträge von
Claudia Blümle und Rebekka Ladewig
in diesem Band.
17 Canguilhem, »Das Lebendige
und sein Milieu«, S. 260.
18 Thomas Brandstetter / Karin
Harrasser: »Einleitung«, in: Brandstetter / Harrasser / Friesinger,
Ambiente, S. 9 — 20, hier S. 11.
19 Im oben angeführten Sinne
Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven
argumentiert auch Benjamin Bühler,
wenn er als verbindende Merkmale
der unterschiedlichen neovitalistischen Strömungen seit den
1880er-Jahren den Fokus auf die
Beziehung von Organismus und
Umwelt sowie deren Modellierung mit
der Metapher des Kreises herausstellt: »[O]b als Lebens-, Bedeutungs-, Funktions-, Gestalt-, Regeloder Kulturkreis«, die Metapher des
Kreises konstituiere den Organismus
als selbstregulierendes System. Vgl.
ders.: »Kreise des Lebendigen.
Geschlossene und offene Räume in
der Umweltlehre und philosophischen Anthropologie«, in: Brandstetter / Harrasser / Friesinger, Ambiente,
S. 67 — 91, hier S. 70. Von der
Biopolitik im Foucault’schen Sinne
zum selbstregulierenden System sei
es nur ein kleiner Schritt: »Denn die
Konzeption des Organismus als sich
selbstregulierendes System versenkt
etwas in den Organismus selbst, was
bislang als Regulierungstechnologien auf die Bevölkerung ausgerichtet
war, ob in Gestalt von Geburten- und
Sterberaten oder Statistiken zur
Häufigkeit und Verteilung bestimmter
Krankheiten: In diesen Theorien [...]
wird das Steuerungsdispositiv in den
Organismus selbst verlagert. Leben
ist damit nicht schlicht Gegenstand
von Regulierungstechnologien,
sondern konstituiert vielmehr selbst
die Notwendigkeit seiner Steuerung
und Regulierung. Daher gelangen
denn auch die biologischen
Fassungen zurück in die Sphäre des
Politischen, indem ihre Steuerungskonzepte zurück auf die Bevölkerung
übertragen werden.« Ebd., S. 71.
20 André Leroi-Gourhan: La geste et
la parole, Bd. 1: Technique et langage,
Paris 1964; Marshall McLuhan:
Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964.
21 Vgl. Erhard Schüttpelz: »Die
medienanthropologische Kehre der
Kulturtechniken«, in: Archiv für
Mediengeschichte. Themenschwerpunkt: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), 2006,
S. 87 — 110.
22 Vgl. Marcel Mauss: »Les
techniques du corps«, in: Journal de
Psychologie, 32 / 3 — 4 (1936),
S. 271 — 293. Siehe dazu auch Erhard
Schüttpelz: »Körpertechniken«, in:
Zeitschrift für Medien – und Kulturfor-
schung, 1 (2010), S. 101 — 120.
23 Zum Konzept der Operationskette siehe Marcel Mauss: Manuel
d’ethnographie, Paris 1967 [1926],
S. 29, 34, 41f.; André Leroi-Gourhan:
La geste et la parole, Bd. 2: La
mémoire et les rythmes, Paris 1965,
hier insbes. die Kapitel »La libération
de la mémoire« und »Le geste et le
programme«; André-Georges
Haudricourt: La technologie, science
humaine. Recherches d’histoire et
d’ethnologie des techniques, Paris
1988, S. 157f.
24 Stiegler, »Milieu« (Hervorh. i.O.).
25 Zur Technologie als Humanwissenschaft vgl. den Aufsatz von
André-Georges Haudricourt: »La
technologie, science humaine«, in: La
Pensée, 115 (1964), S. 28 — 35. Sehr
früh schon hat Haudricourt die
Technik als Alleinstellungsmerkmal
des Menschen zurückgewiesen. Vgl.
hierzu Michael Cuntz: »Kommentar«,
in: Zeitschrift für Medien- und
Kulturforschung, 1 (2010), S. 89 — 100.
26 Claude Bernard entlehnte das
Konzept des milieu intérieur dem
Histologen Charles-Philippe Robin,
bei dem das milieu de l’intérieur als
Synonym für die körperlichen Säfte
stand. In seinem ab 1854 einsetzenden Gebrauch bezeichnet es für
Bernard schlicht das Blut, dessen
Temperatur ihm als regulierende
Größe des tierischen Lebens galt.
Schon hierin deutet sich die später
theoretisierte Figur der Homöostase
an. Im Zusammenhang mit der
Entdeckung der glykogenen Funktion
der Leber weitete Bernard das
Konzept des inneren Milieus auf alle
»flüssigen Medien« des Körpers aus.
Vgl. Claude Bernard: Leçons sur les
phénomènes de la vie, communs aux
animaux et aux végétaux 1, Paris 1878.
27 Simondon, Die Existenzweise
technischer Objekte, S. 55.
28 Frédéric Neyrat: »Elements for an
Ecology of Separation. Beyond
Ecological Constructivism«, übers. v.
James Burton, in: Hörl, General
Ecology, S. 101 — 129, hier S. 115f.
29 Vgl. André Gorz: L’immatériel,
Paris 2003.
30 Vgl. u.a. Donna Haraway: Simians,
Cyborgs, and Women: The Reinvention
of Nature, New York 1991; N. Kathrin
Hayles: How We Became Posthuman,
Chicago 1999; Rosi Braidotti: The
Posthuman, Cambridge 2013.
37
31 N. Katherine Hayles: Unthought.
The Power of the Cognitive Nonconscious, Chicago / London 2017.
32 Alexander Galloway / Eugene
Thacker: The Exploit. A Theory of
Networks, Minneapolis 2007, S. 157.
33 Siehe den Beitrag von Samo
Tomšič in diesem Band.
34 Vgl. Donna J. Haraway / Cary
Wolfe: »Companions in Conversation«,
in: Dies., Manifestly Haraway,
Minneapolis 2016, S. 199 — 298, hier
S. 250. In Bezug auf Lynn Margulis’
Arbeiten zur Endosymbiose und
Symbiogenese sowie im Einklang mit
Wissenschaftlern wie Scott F. Gilbert,
Jan Sapp oder Alfred Tauber hat
Haraway das Konzept eines bereits
auf der rein biologischen Ebene
wirksamen gegenseitigen worlding
veranschlagt, mit allen Konsequenzen, die sich daraus für die Auffassung des Individuums ergeben. In
dem Aufsatz »A Symbiotic View of
Life: We Have Never Been Individuals«, in: The Quarterly Review of
Biology, 87 / 4 (2012), S. 326, schreibt
Haraway diesbezüglich: »The
discovery of symbiosis throughout
the animal kingdom is fundamentally
transforming the classical conception of an insular individuality into one
in which interactive relationships
among species blur the boundaries
of the organism and obscure the
notion of essential identity.« Haraway
und Wolfe entleihen den Begriff der
»contact zone« von Mary Louise Pratt,
die damit die sozialen Räume des
Aufeinandertreffens verschiedener
Kulturen und asymmetrischer
Machtrelationen insbesondere im
Kontext des Kolonialismus und der
Geschichte der Sklaverei bezeichnet
hat. Vgl. Mary Louise Pratt: »Arts of
the Contact Zone«, in: Profession,
1991, S. 33 — 40.
35 Shoshana Zuboff: The Age of
Surveillance Capitalism. The Fight for
a Human Future at the New Frontier of
Power, New York 2019.
36 Jordan Crandall: »The Geospatialization of Calculative Operations:
Tracking, Sensing and Megacities«,
in: Theory, Culture & Society, 27 / 6
(2010), S. 68 — 90, hier S. 87.
37 Vgl. Hans Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie« [1963], in:
Ders., Wirklichkeiten in denen wir
leben. Aufsätze und eine Rede,
38
Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung
Stuttgart 2009, S. 7—54, hier S. 53.
38 N. Katherine Hayles: »RFID.
Human Agency and Meaning in
Information-Intensive Environments«,
in: Theory, Culture & Society, 26
(2009), S. 47 — 72; dies.: »Cybernetics«, in: William J.T. Mitchell / Mark
B.N. Hansen (Hg.), Critical Terms for
Media Studies, Chicago 2010,
S. 145 — 156, hier S. 148.
39 Vgl. hierzu John Maeda: The Laws
of Simplicity. Design, Technology,
Business, Life, Cambridge
(Mass.) / London 2006, S. 24ff.
40 Crandall, »The Geospatialization
of Calculative Operations«, S. 75.
41 Vgl. hierzu Hans Hahn, »Die Krise
der Anschauung« [1933], in: Brian
McGuinness (Hg.), Hans Hahn. Logik,
Empirismus, Mathematik, Frankfurt
am Main 1988, S. 86 — 114; sowie
ausführlicher Klaus Th. Volkert: Die
Krise der Anschauung. Studien zur
Wissenschafts-, Sozial- und
Bildungsgeschichte der Mathematik,
Göttingen 1986.
42 Vgl. Gaston Bachelard: Der neue
wissenschaftliche Geist, Frankfurt am
Main 1988 [1934], insbes. S. 26ff.
43 Ernst Cassirer: Substanzbegriff
und Funktionsbegriff. Untersuchung
über die Grundlagen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. Cassirers Werk
entstand u.a. in Auseinandersetzung
mit dem »Erlanger Programm« des
Mathematikers Felix Klein, der die
Geometrie als »reine Beziehungslehre [definierte], die gestattet,
unterschiedliche Geometrien
ineinander zu übersetzen«. Vgl.
hierzu Nils Röller: Medientheorie im
epistemischen Übergang. Hermann
Weyls Philosophie der Mathematik
und Naturwissenschaft und Ernst
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen im Wechselverhältnis,
Weimar 2002, S. 42. Kleins Geometrie ist u.a. Gegenstand des Beitrags
von Michael Friedman in dieser
Sektion.
44 Vgl. hierzu Paolo Totaro / Domenico Ninno: »The Concept of Algorithm
as an Interpretative Key of Modern
Rationality«, in: Theory, Culture &
Society, 31 / 4 (2014), S. 29 — 49.
45 Vgl. hierzu Mark Andrejevic / Mark
Burdon: »Defining the Sensor
Society«, in: Television & New Media,
16 / 1 (2015), S. 19 — 36.
46 Vgl. hierzu Henning Schmidgen:
Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur
der verlorenen Zeit, Berlin 2009.
47 Brief vom 22. November 1898
von Jakob von Uexküll an die
Zoologische Station Neapel (Archiv
der Zoologischen Station Neapel), zit.
n.d.O., in: Katja Kynast: »Kinematografie als Medium der Umweltforschung Jakob von Uexkülls«, in: Bild
– Wissen – Technik, 4 (2010), S. 1 — 14.
Hierzu auch Marta Braun: Picturing
Time: The Work of Étienne-Jules
Marey (1830 — 1904), Chicago / London 1992.
48 Vgl. Kynast, »Kinematografie als
Medium der Umweltforschung Jakob
von Uexkülls«; siehe auch den
Beitrag von Matthias Bruhn in diesem
Band.
49 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit«, [dritte Fassung,
1936 — 39], in: Ders., Gesammelte
Schriften, Bd. 1, Teil 2, hg. v. Rolf
Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991,
S. 471 — 508, hier S. 498.
50 Vgl. Peter Haff: »Humans and
Technology in the Anthropocene: Six
Rules«, in: The Anthropocene Review,
1 / 2 (2014), S. 125 — 136; ders.:
»Technology as a Geological
Phenomenon: Implications for
Human Well-Being«, in: Colin N.
Waters et. al. (Hg.), A Stratigraphical
Basis for the Anthropocene, Geological Society London: Special
Publications 395, London 2013.
51 Peter K. Haff, »Technology as a
Geological Phenomenon«, o.S.
52 Canguilhem, »Das Lebendige
und sein Milieu«, S. 251.
53 Ebd.
54 Zur damit verschobenen
Maßstäblichkeit des menschlichen
Lebens siehe den Beitrag von Felicity
Scott in dieser Sektion.
55 Manfred E. Clynes / Nathan S.
Kline: »Cyborgs and Space«, in:
Astronautics, 9 (1960), S. 26 — 27,
74 — 76, hier S. 26.
56 In Wir sind nie modern gewesen.
Versuch einer symmetrischen
Anthropologie, übers. v. Gustav
Roßler, Frankfurt am Main 2008
[1991], unterzieht Bruno Latour die für
die moderne Wissenschaft konstitutive Grenzziehung zwischen Natur und
Kultur einer kritischen Revision. Der
»große Unterschied« zwischen
natürlichen und kulturellen bzw.
gesellschaftlichen Instanzen wird
dabei als Effekt eines weiteren und
vorgängigen Differenzierungsversuches gelesen, als definitorische
Abgrenzung des Menschlichen vom
Nicht-Menschlichen. Latours
Revision zielt dabei auf den Ausweis
des illusionären Charakters des
»großen Unterschiedes« und ist von
der Hoffnung getragen, diesseits der
als desaströs ausgewiesenen
asymmetrischen Verteilung
natürlicher und gesellschaftlicher,
menschlicher und nicht-menschlicher Instanzen, eine verloren
gegangene Symmetrie zu rehabilitieren.
57 Vgl. hierzu Neyrat, »Elements for
an Ecology of Separation«, insbes.
S. 101 — 103.
58 Canguilhem, »Das Lebendige
und sein Milieu«, S. 262.
59 Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs–Bild. Kino I, übers. v. Ulrich
Christians und Ulrike Bokelmann,
Frankfurt am Main 1997 [1983],
S. 91 — 97. Intervall bzw. Abstand bilden in Deleuzes Ausführungen zum
Bewegungs-Bild und in Anlehnung an
Henri Bergson die erste Ebene der
Subjektivierung der Materie. Dabei
wird die Materie selbst als Bild im
Sinne der Einheit von Licht und Bewegung aufgefasst. Während die
Materie als ursprüngliches Bewegungs-Bild definiert wird, als
Immanenzebene, die alle Bilder in
sich begreift und auf der alle Bilder
nach allen Seiten aufeinander
reagieren, tritt mit dem Lebendigen
ein besonderes Bild auf, das sich
dadurch auszeichnet, gerade nicht
nach allen, sondern lediglich nach
ausgewählten Seiten hin zu reagieren.
Damit ist die erste Ebene der
Subjektivierung der Materie
angezeigt und als Wahrnehmungs-Bild benannt.
60 Ein derartig pharmakologisches
Verständnis der téchne ist in
vielfacher Hinsicht von Jacques
Derrida vorbereitet und von Bernard
Stiegler konkretisiert worden.
Sektion I:
Techniken und
Technologien
39