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Milieu Fragmente Technologische und ästhetische Perspektiven ilinx. kollaborationen 3 Milieu Fragmente Technologische und ästhetische Perspektiven Herausgegeben von Rebekka Ladewig und Angelika Seppi ilinx. kollaborationen 3 Analysis & Excess Spector Books Inhaltsverzeichnis 7 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi Milieu 2020. Eine Einleitung Techniken und Technologien 41 Katharina D. Martin Organisation und Konkretion. Die Technik als Problem des Ausdrucks in der Philosophie 49 Christian Groß Natur, Technik, Körper. Abseits anthropo- und eurozentrischer Chauvinismen 64 Anna Echterhölter Fischfang auf Watom und die Ökologie der Zahl 76 Sebastian Egenhofer Ströme, Filter und Sensoren. Alteritätsbezug von Technik und Kunst 96 Yuk Hui Modulation nach der Kontrolle Kontaktzonen und Subjektivierungen 119 Marie-Luise Angerer Zu den Bedingungen affektiver Milieus 130 Samo Tomšič Die Extimität des symbolischen Milieus 140 Angelika Seppi Abstrakte Maschinen, konkrete Gefüge, existenzielle Ritornelle. Milieus der Individuation und Subjektivierung nach Deleuze und Guattari 158 Stephan Gregory Unter Einfluss. Im Umkreis des Verrats 170 Michael Cuntz Literarische Modellierungen von Schutzmilieus. Rousseau, Bioy Casares, Houellebecq 188 Rebekka Ladewig The Loss of Touch. Negative Umwelt in Kurt Goldsteins Theorie des Organismus Künstlerischer Beitrag 209 Dane Mitchell Post hoc Bilder und Medien 243 Kathrin Friedrich Im virtuellen Zaun. Umgebungen adaptiver Medien 250 Kate Chandler, Nina Franz Screen Publics. Der Bildschirm als Wahrnehmungsmilieu der Spätmoderne 262 Mathias Bruhn Membran der Sichtbarkeit: Glas 276 Claudia Blümle La dolce vita. Lacans film- und bildtechnische Umwelten 284 Michael Friedman Bilder der Mathematik. Von Maschine und Architektur zu Organismus und Milieu Bio- und Geopolitiken 305 Bernard Stiegler Industrie der Spuren 323 Bernd Bösel Technopolitiken der Milieukontrolle 329 Martin Müller Nach CRISPR. Zur dritten Proliferation der Biopolitik (1800 / 1943 / 2004) 342 Felicity Scott Welten machen, Menschen konfigurieren, oder: Von der Welt zum Menschen zur Welt 354 Birgit Schneider Funknetze und ihre Tarnungen als Technohabitate für Menschen, Pflanzen, Tiere und Maschinen 367 Petra Löffler Counter-Media-Environments. Ästhetik und Geopolitik nach McLuhan Anhang 379 384 389 390 Verzeichnis der Autor*innen Abbildungsverzeichnis Dank Impressum Rebekka Ladewig, Angelika Seppi Milieu 2020. Eine Einleitung Wohl kein anderes Ereignis wird im Jahr 2020 für mehr Schlagzeilen gesorgt haben als das in der chinesischen Metropole Wuhan ausgebrochene Coronavirus COVID-19. Im Laufe weniger Wochen und Monate hat die globale Ausbreitung der durch das Virus ausgelösten Atemwegserkrankung SARS-CoV-2 die Gesundheits- und Wirtschaftssysteme zahlloser Staaten bis an die Grenzen der Belastbarkeit geführt und einschneidende Veränderungen im Alltag von Milliarden von Menschen nach sich gezogen. Zum heutigen Datum werden weltweit 677.938 Fälle gezählt mit 31.746 Todesfällen und 146.319 genesenen Patient*innen.1 Während China nach der gelungenen Eindämmung der Infektions- und Todesfälle die im Zusammenhang der Krise verhängten Notverordnungen (Ausgangs- und Reisebeschränkungen, Versammlungsverbot, Absperrungen ganzer Städte, Regionen und schließlich des gesamten Landes inklusive der Schließung von Flughäfen, Bahnhöfen und anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen etc.) inzwischen wieder gelockert hat, verschärfen sich die Maßnahmen in den momentan besonders hart betroffenen Staaten wie den USA, Italien, Spanien und Frankreich. Ein voraussichtliches Ende der COVID19-Pandemie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt ebenso wenig in Sicht wie die mittel- und langfristigen Folgen des verhängten Ausnahmezustands eine realistische Einschätzung zulassen. Trotzdem zeichnen sich bereits jetzt einige höchst bedenkliche Entwicklungen ab, die in ihrer Gesamtheit auf die von Roberto Esposito beschriebenen Schattenseiten der immunitas verweisen: 2 Sie betreffen die zu beobachtende Rückkehr eines starken Regierungsmodells mit nationalen Grenzziehungen, das Verhältnis politischer Handlungsträger*innen zur sogenannten Expertenkultur und den medialen Meinungsmacher*innen, das Krisenmanagement, die Einschränkung der Freiheitsrechte • 7 8 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung und des Datenschutzes, die internationale und intergenerationelle Dynamik und nicht zuletzt das Verhältnis humanitärer und ökonomischer Werte.3 Wieviel Wert wird dem Schutz des Lebens beigemessen worden sein im Verhältnis zum Schutz der Volkswirtschaften, aber auch und vielleicht noch dringlicher: der Schutz welchen Lebens? Ohne den Ernst der Lage und das Leid der von der Viruserkrankung Betroffenen oder Bedrohten schmälern zu wollen, entlarvt das Verhältnis der im Kampf gegen die Corona-Epidemie mobilisierten Mittel zu denjenigen Maßnahmen, die seit Jahren und Jahrzehnten verwehrt und unterlassen werden – man denke an die Entwicklungshilfe, die Austeritätspolitik, die Flüchtlingskrise, an Syrien, Jemen, die Demokratische Republik Kongo etc. – , den nekropolitischen Grund der Biopolitik.4 Auch wenn die mit der gegenwärtigen Krise verbundenen Erwartungen – von den Extremen eines zukünftigen biopolitischen Totalitarismus über den Zusammenbruch des Kapitalismus hin zum Beginn eines neuen Kommunismus – rein spekulativ bleiben, macht die Krise selbst faktisch spür- und erfahrbarer denn je, was es heißt, in ein weltweites natürliches und kultürliches Beziehungsgeflecht eingebunden zu sein. Die primitive Biologie des Virus trifft auf die avanciertesten Mittel, Maschinen und Apparate der zeitgenössischen Medizin und Biotechnologien; die biologischen Infektionsmechanismen kreuzen sich mit den technologischen Infrastrukturen des globalen Waren- und Personenverkehrs; die rasant steigenden Infektions- und Todeszahlen • Screenshot von nextstrain.org: Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 29.3.2020 Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven ziehen unerhörte bio- und nekropolitische Maßnahmen nach sich mit ebenso unerhörten ökonomischen Konsequenzen, von der affektiven Dimension der Pandemie ganz zu schweigen; der sozialen Distanzierung auf der physischen Ebene antwortet eine Intensivierung der telekommunikativen Vernetzung, die von der privaten Kommunikation über Facebook, Zoom & Co. bis hin zur medialen Berichterstattung, zum politischen und zum wissenschaftlichen Austausch reicht. Diskurse der Ökologie – Ökologisierung des Diskurses In aller Eindrücklichkeit hält uns COVID-19 den Spiegel einer durch und durch vernetzten Welt vor Augen, deren Komplexität sich weder praktisch noch theoretisch reduzieren lässt. In praktischer Hinsicht stellt uns die irreduzible Komplexität unserer Beziehungsgeflechte vor die Herausforderung einer radikalen Erneuerung des Politischen (im weitesten Sinne der gemeinsamen Entscheidung darüber, wie wir leben wollen). In theoretischer Hinsicht ist das Wissen von den Beziehungen seit jeher auf eine Vielzahl von Disziplinen verteilt und hat sich zuletzt in einem erweiterten ökologischen Diskurs zu bündeln begonnen, der die Rede von einem neuen ökologischen Paradigma und einer damit verbundenen neuen historischen Semantik zu legitimieren scheint: »We are witnessing the breakthrough of a new historical semantics: the breakthrough of ecology. There are thousands of ecologies today: ecologies of sensation, perception, cognition, desire, attention, power, values, information, participation, media, the mind, relations, practices, behavior, belonging, the social, the political – to name only a selection of possible examples. There seems to be hardly any area that cannot be considered the object of an ecology and thus open to an ecological reformulation.«5 Waren die Beziehungen der lebendigen Organismen untereinander und zu ihrer natürlichen Umgebung – ihrem environment (in der englischsprachigen Forschungsgemeinde), ihrer Umwelt (in der deutschen) oder ihrem milieu (in der französischen) – bis weit ins 20. Jahrhundert der privilegierte Gegenstand der biologischen Disziplin der Ökologie, so zieht der erweiterte ökologische Diskurs neben den biologischen also auch soziopolitische, technologische, ökonomische und epistemologische Dimensionen in Betracht. Damit findet eine perspektivische Verschiebung von den natürlichen hin zu den nicht-natürlichen Ökologien und einer Vielzahl gemischter Milieus statt.6 Mit der Erweiterung dieses Diskurses wiederholt und verschiebt sich ein epistemischer Umbruch, der sich bereits im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ereignete und unter dem Schlagwort der Beziehung oder Relationalität gefasst werden kann. Die diesbezüglich verhandelten – zwar verwandten, aber durchaus zu differenzierenden – Konzepte des environments, der Umwelt und des Milieus markieren dabei drei unterschiedliche begriffs- und wissenschaftshistorische Rahmen, um 9 10 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung die Beziehungen und Wirkungsgefüge zwischen den Fragmenten der betrachteten natürlichen und nicht-natürlichen Ökologien zu erfassen. Zum Einsatz und zur Entfaltung sind sie seither nicht mehr nur in der Ökologie als genuiner Wissenschaft der Beziehungen gekommen, sondern auf dem weiten Feld der Lebenswissenschaften im Allgemeinen. Wie Florian Sprenger in seiner umfassenden Studie über die Epistemologien des Umgebens gezeigt hat, lässt sich außerdem feststellen, dass in allen drei angeführten Wissenschaftssprachen und -kontexten die Beschreibung ökologischer Beziehungen von Beginn an aufs Engste mit der Frage ihrer technologischen Gestaltbarkeit verknüpft war.7 Kleine Geschichte des Milieus Wenn wir im vorliegenden Band das aus dem Französischen stammende Konzept des Milieus in den Fokus rücken, so tun wir dies erstens aufgrund seines dezidiert intermedialen Charakters, der noch viel stärker als das englische environment oder die deutsche Umwelt auf ein »reines Beziehungssystem (système de rapports) ohne jegliche Verankerung (supports)« abzielt.8 Zweitens steht die französische Begriffsprägung in engster Verbindung zu einer Philosophie der Individuation, die das wechselseitige Verhältnis von Individuum und Milieu aus der Perspektive ihrer Genese zu verstehen versucht, ohne das, was es zu erklären gilt, als fait accompli bereits vorauszusetzen. Als Hauptvertreter und einflussreichster Wegbereiter einer solchen genetischen Konzeptualisierung ist Georges Canguilhem zu benennen, während sein Schüler Gilbert Simondon letztere aus dem fokussierten Feld des Lebendigen herausgelöst und auf physikalische, psychische, soziale sowie schließlich auch auf technische Prozesse der Individuation übertragen hat.9 Aus einer solchen genetischen Perspektive gilt es, wie Bernard Stiegler in einem prägnanten Eintrag auf Ars Industrialis schreibt, von der Mitte (frz. mi-lieu) der Beziehung auszugehen, »das heißt, von jenem Punkt, wo sich weder das Individuum noch das Milieu bereits herausgebildet haben. Das Milieu liegt also, präzise gesagt, nicht außerhalb des Individuums: es ist seine Ergänzung (frz. complémentaire) und in diesem Sinne keine Umgebung«.10 Eine derartig komplementäre Lesart des Milieus ergibt sich bereits aus dem Kompositum von mi (Mitte) und lieu (Ort), das schon etymologisch jeden eindimensionalen Zuschnitt zurückweist. Zureichend bestimmt werden kann das Milieu nur unter Berücksichtigung des multidimensionalen Beziehungsgeflechts zwischen den Fragmenten, die es zugleich verbindet und trennt. Als mehrdeutiges Zwischen ermöglicht das Milieu die Passage, den Austausch und Transport aller Arten von Botschaften: Energie, Informationen, Affekten, Gefühlen, Zeichen und Bedeutungen. Vor diesem Hintergrund verwundert es beinahe, dass es so lange gedauert hat, bis das Konzept des Milieus – in den Worten Canguilhems – »zu einem universalen und not- Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven wendigen Modus der Erfassung von Erfahrung und Existenz der Lebewesen« werden konnte.11 Von Georges Canguilhem in seinem 1947 und 1948 gehaltenen und mittlerweile kanonischen Vortrag über Das Lebendige und sein Milieu noch als zukünftiges Ereignis beschworen, ist das Milieu inzwischen zweifelsohne zu einer »Kategorie des zeitgenössischen Denkens« 12 geworden und vielleicht bereits auf dem Weg, zu einem Allgemeinplatz zu werden. Damit droht eine Verwässerung der konzeptuellen Einsätze des Milieus einherzugehen, der ein kurzer begriffs- und ideengeschichtlicher Abriss entgegenwirken mag. In einer einflussreichen begriffsgeschichtlichen Studie aus dem Jahr 1942 verfolgt der Romanist und Literaturtheoretiker Leo Spitzer die Genealogie des Milieubegriffs (in Abgrenzung zu der des Ambientes) ausgehend vom griechischen periechon über das lateinische ambiens und medium hin zum neuzeitlichen und modernen ambiance und milieu.13 Der Wandel, den er dabei herausstellt, führt vom griechischen Ursprung, der das Umhüllende, Umschließende, Umfassende oder Umgebende meinte und auf die kosmologische Sympathie zwischen Mensch und Universum abzielte, zu einer zunächst vornehmlich mechanischen Lesart, die sich insbesondere seit Isaac Newton niederzuschlagen beginnt, wenngleich bloß der Sache nach. Der Begriff des Milieus und seine eigentliche wissenschaftshistorische Entwicklung setzen mit den französischen Mechanisten des 18. Jahrhunderts ein und werden in der Folge auf die Physik und die gerade im Entstehen begriffene Biologie sowie die sich später herausbildende Subdisziplin der Ökologie übertragen. Ausgehend von der ökologischen Verknüpfung biologischer und anthropogeografischer Ansätze hat der Milieubegriff seine Spuren schließlich auf dem weiten Feld der Lebenswissenschaften insgesamt hinterlassen. Doch werfen wir zunächst einen näheren Blick auf die mechanistische Tradition, die mit dem französischen milieu das lateinische medium bzw. fluidum übersetzte, das seine besondere Stellung in der Physik Newtons zwischen jenen Körpern einnahm, welche nicht unmittelbar miteinander in Kontakt und trotzdem in Wechselwirkung zueinander standen. Von Anfang an nimmt das Milieu damit die zweifache Rolle eines Ortes und Vermittlers ein und dient dabei zur Explikation derjenigen Wechselwirkungen, die sich nicht aus dem unmittelbaren oder unmittelbar ersichtlichen Kontakt der Körper ableiten ließen, welche für die cartesianische Physik maßgeblich waren. Der Lichtäther als paradigmatisches Fluidum, mit dem Newton versuchte, jene Fernwirkungen zu erklären, die für die cartesianische Physik schlicht nicht infrage kamen, wird nach und nach zum Wirkungsträger und damit zum Medium zwischen und in den Körpern, die es verbindet und gleichsam durchdringt: »Daraus ergibt sich der Übergang vom Begriff des TrägerFluidums zu seiner Bezeichnung als Milieu. Das Fluidum ist der Vermittler zwischen zwei Körpern, es ist ihre Mitte [milieu]; und • 11 12 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung da es all diese Körper durchdringt, befinden sie sich inmitten [au milieu de] des Fluidums. Newton und der Physik der zentripetalen Kräfte zufolge kann man von einer Umgebung [environnement] oder einem Milieu sprechen, gerade weil es Kraftzentren gibt. Der Milieubegriff ist ein wesentlich relativer Begriff. Wenn man den Körper, auf den sich die durch das Milieu übertragene Handlung auswirkt, getrennt betrachtet, so vergisst man, dass das Milieu ein Zwischen-zwei-Zentren ist, und behält nur seine zentripetale Übertragungsfunktion und seine Bedeutung als Umgebung zurück. In dieser Weise tendiert das Milieu dazu, seinen relativen Sinn zu verlieren und den absoluten Charakter einer an sich seienden Realität anzunehmen.«14 Die Relationalität des Milieubegriffs durchzieht die französische Tradition von Georges-Louis Leclerc de Buffon und Jean-Baptiste de Lamarck über Auguste Comte, Honoré de Balzac und Hippolyte Adolphe Taine bis hin zu André Leroi-Gourhan, Gilbert Simondon, Gilles Deleuze und Félix Guattari. Was die früheren von den späteren Theoretikern des Milieus unterscheidet, ist das Verständnis der Relation als solcher und die Richtung der dabei veranschlagten Einwirkungen. Von seiner wissenschaftlichen Etablierung im 18. Jahrhundert bis • Beugung von Wellen in einem Medium an einem Spalt, Isaac Newton 1687 Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven zum frühen 20. Jahrhundert ist die Relationalität von Milieu und Organismus zunächst vorwiegend mechanistisch gefasst, und zwar im Sinne der Determination des Organismus durch sein Milieu. Selbst dort, wo etwa mit Comte eine dialektische Konzeption der Beziehung zwischen Organismus und Milieu als »Kräftekonflikt« und damit die Möglichkeit wechselseitiger Modifikation anklingt, wird die Einwirkung des Milieus auf den Organismus als primär, die umgekehrte Einwirkung des Organismus auf das Milieu dagegen als sekundär, wenn nicht als weitgehend unerheblich eingestuft.15 Erst unter dem zunehmenden Einfluss des Pragmatismus und der Gestalttheorie lässt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Umkehrung des Verhältnisses beobachten und damit eine Revision mechanistischer Ursache-Wirkungs-Modelle. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Kehrtwende markieren Jakob von Uexkülls Studien zur Tierpsychologie sowie Kurt Goldsteins Studien zur Humanpathologie.16 Neben der spezifisch antimechanistischen, dynamischen und neovitalistischen Prägung, die Canguilhem dem Milieubegriff schließlich verleiht, ist es insbesondere der zugleich eröffnete konstruktive Blickwinkel, der für die Konzeption des vorliegenden Bandes entscheidend ist. Wie vor ihm bereits Uexküll und Goldstein sieht auch Canguilhem das grundlegende Merkmal des Lebewesens darin, »sich selbst sein Milieu zu schaffen, es selbst auszubilden«.17 Er betont damit zugleich die Irreduzibilität des Lebendigen auf die Milieuwirkungen sowie den konstruierten oder künstlichen Charakter von Milieus. Wie Thomas Brandstetter und Karin Harrasser bemerkt haben, ist es ausgerechnet der neovitalistische Widerstand gegen jede deterministische Reduktion, der den regelnden Zugriff auf das Lebendige fortan radikalisieren sollte: »Erst das Lebewesen, das prinzipiell veränderbar und wandelbar ist, ist durch Erziehung, Bildung, Training, Züchtung, Dressur, pharmakologische oder genetische Manipulation, Architektur etc. verbesserungsfähig. Das Leben wird damit zum Objekt einer systematischen Modifikation.« 18 Vom technoökologischen Optimierungsparadigma der Nachkriegszeit vereinnahmt, ist die systematische Modifikation des Lebendigen zum zentralen Gegenstand eines allgemeinen Steuerungswissens geworden, das auf verschiedene Weise von den Theorien des Behaviorismus, der Gestalttheorie und der Umweltlehre vorbereitet worden war und sich schließlich in der Kybernetik verfestigte, um sich von hier aus zum Brennpunkt einer technologisch gestützten Biopolitik zu entwickeln.19 Inzwischen laufen die Bestände dieses Wissens im Namen einer allgemeinen Ökologie zusammen, die die politischen Implikationen technologischer Zugriffe auf das Lebendige ebenso in das Feld des Ökologischen eingemeindet wie deren kybernetisches Erbe. Sektionen und Perspektiven Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge widmen sich die- 13 14 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung sen neuen Erscheinungsformen des Ökologischen mit besonderem Augenmerk auf deren technologische und ästhetische Dimensionen. Sie grenzen dabei auf die eine oder andere Weise immer schon an die Frage des Politischen. Schließlich vollziehen sich die gegenwärtigen Milieutransformationen nicht als blinder Automatismus der biologischen, technologischen oder epistemischen Evolution, sondern als konflikthafte Prozesse der An- und Enteignung natürlicher und kultürlicher Ressourcen sowie praktischer und theoretischer Fertigkeiten und Wissensbestände. Dabei gehen wir davon aus, dass eine zeitgenössische Aktualisierung des Milieukonzepts die technologischen und ästhetischen Bedingungen der Gegenwart nicht nur zu berücksichtigen, sondern sie vielmehr in den Mittelpunkt zu rücken und auf ihre politischen Implikationen hin zu beleuchten hat. In vier Sektionen zu Techniken und Technologien, Kontaktzonen und Subjektivierungen, Bildern und Medien sowie Bio- und Geopolitiken eröffnet der Band eine Vielfalt an Frage-, Problem- und Blickrichtungen, die der Verallgemeinerung des Milieus im Singular die Idee der irreduziblen Komplexität je besonderer Milieus im Plural gegenüberstellen und den notwendig fragmentarischen Charakter des Milieuwissens kenntlich machen. Ergänzt werden die theoretischen Einsätze um einen künstlerischen Beitrag von Dane Mitchell. Seine List of Losses aus der Arbeit Post hoc konfrontiert uns auf zugleich sachliche und poetische Weise mit einem Inventar verschwundener, verlorener oder zerstörter Phänomene und damit mit der Vergänglichkeit von Milieukonfigurationen und der Verletzbarkeit ihrer Komponenten. Sektion I: Techniken und Technologien Gerade in Hinsicht auf die zeitgenössischen technischen Milieus des Menschen stellt die vorab hervorgehobene wechselseitige Ergänzung von Individuum und Milieu eine entscheidende Voraussetzung dar. In der technikphilosophischen Tradition von Ernst Kapp über Marcel Mauss, André Leroi-Gourhan und Gilbert Simondon bis hin zu ihren zeitgenössischen Aktualisierungen sind Anthropo- und Technogenese untrennbar miteinander verbunden. Leroi-Gourhan nimmt dabei gewissermaßen eine Zwischenstellung ein: In Anschluss an Kapp und Seite an Seite mit Marshall McLuhan, dessen Understanding Media im gleichen Jahr erscheint wie Leroi-Gourhans Technique et langage,20 ist er einer der Hauptvertreter des Extensionsparadigmas.21 Die Vorstellung von der Veräußerung menschlicher Sinne und Sinnesorgane vertritt er so resolut, dass sie ihn bis zur Externalisierung des Gehirns führt, die in seinen Augen den Endpunkt einer im Zeichen der Technik – und nicht etwa der Biologie – stehenden Evolution bildet. Gleichzeitig übernimmt er aus der Technikphilosophie seines Lehrers Marcel Mauss den Fokus auf die körperliche Geste, aus deren Bewegungsprogrammen sich die nachgelagerten Artefakte erst exteriorisieren. / In • •• Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven 15 strikter Zurückweisung einer Reduktion von Technik auf Werkzeuge und Maschinen, die außerhalb des Körpers liegen, hatte Mauss die Frage aufgeworfen, was es stattdessen bedeuten würde, vom Körper selbst und dessen gestischem Repertoire als primärer Technik auszugehen. Gehen, Schwimmen, Zeigen etc.: Jede dieser Praktiken stellt eine Fertigkeit dar, die Formen der Kreativität, der Nachahmung und der Geschicklichkeit umfasst.22 In Verbindung damit steht das von Mauss inspirierte und von Leroi-Gourhan und André-Georges Haudricourt ausgearbeitete Konzept der Operationskette, das sich mit dem Fokus auf die praxeologischen Wissensbestände, die zwischen Artefakten, Instrumenten und Apparaten wirken und diese verbinden, ganz explizit den technischen Milieus als situierten Praktiken zuwendet.23 Die Aspekte der Exteriorisierung, der Körpertechniken und Operationsketten fließen gleichermaßen in aktuellere Auffassungen ein. So geht etwa Stiegler so weit zu sagen, dass sich der Mensch nicht anders als »im Mi-lieu, zwischen der Auslagerung der Organe und der Einlagerung der Prothesen« individuiert.24 Vollzieht sich die Anthropogenese in eben diesem Zwischenraum, wird die Technik gleichsam zu dem Milieu des Menschen, die Technologie, im erweiterten Sinne des logos der techné, zur Humanwissenschaft par excellence.25 Der Mensch und das Wissen vom Menschen halten sich in anderen Worten nicht bloß auch und erst recht nicht lediglich seit Kur- Elementare Beziehungen zwischen den Verrichtungen (Gesten) und den primitiven Werkzeugen nach André Leroi-Gourhan • 16 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung zem in der Sphäre der Technik auf, sondern inhärieren ihr ganz wesentlich und von jeher. Damit laufen die skizzierten Entwicklungen auf ein erweitertes Verständnis von Technik hinaus, das neben werkzeug- und maschinengestützten Operationsabläufen sowie dem in Technologien gebündelten Wissen auch die alltäglichen und gewohnheitsmäßigen körperlichen Fertigkeiten sowie Formen nicht standardisierten oder impliziten Wissens einschließt. Eine eigene ontologische Existenzweise ist der Sphäre des Technischen von Gilbert Simondon zugewiesen worden, der unter den Stichworten der Individuation und Konkretion die genetische Perspektive seines Lehrers Canguilhem auf das technische Individuum übertragen hat. Insbesondere mit Blick auf die differenzierte Betrachtung der technischen Milieus, die er unter Rückgriff auf Claude Bernards »milieu intérieur« 26 und den bereits angeführten Milieubegriff Lamarcks entwickelt, ist Simondons Technikphilosophie in diesem Kontext von Bedeutung. Als Sitz der Selbstregulation kommt hier das »assoziierte Milieu« zu stehen: »als Vehikel der Information oder der bereits von Information geleiteten Energie«.27 •• Australische Gerätschaften zur Beschaffung und Fertigung nach André Leroi-Gourhan: a) Speer und Speerschleuder; b) Grabstock; c) Bumerang; d) Chopper; e) Messer; f) Pfriem; g) Doppelschaber; h) Rindenschale Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven In alledem stellt die Technik alles andere als bloß ein Mittel zum Zweck dar. Sie steht vielmehr für eine von multiplen Weisen der Welterschließung. Darüber hinaus ist die Technik selbst nicht eine, sondern viele und variiert je nach dem historischen, geo- und soziopolitischen sowie medialen Kontext. Vor diesem Hintergrund legen die in der Sektion »Techniken und Technologien« versammelten Beiträge verschiedene Zugänge zur Technikauffassung aus je spezifischen diskursiven und historischen Blickwinkeln frei. Der Aufsatz von Katharina D. Martin rekonstruiert eine genealogische Linie der Technikphilosophie, die unter dem Schlagwort der Organisation von Schellings Auffassung des Organismus über Kapps frühe technikphilosophische These der Organprojektion bis hin zu Uexkülls umwelttheoretischer Biologie führt. Mit Simondon, Deleuze und Guattari setzt sie dem Paradigma der Organisation schließlich jenes der Konkretion entgegen. Anhand dieser beiden leitenden Begriffe stellt Martin eine Auffassung von Technik zur Diskussion, die sich weniger an den technischen Objekten orientiert als vielmehr an den Möglichkeiten und Formen des Ausdrucks. In mehr als einer Hinsicht eröffnet der Entwurf einer Philosophie der Technik als Problem des Ausdrucks eine kritische Revision klassischer technikphilosophischer Narrative. Expliziter noch als der Beitrag Martins veranschlagt der Aufsatz von Christian Groß eine Kritik an den anthropo- und eurozentrischen Kennzeichnungen, die dem westlichen Verständnis von Technik zugrunde liegen. Darunter fallen die Vorstellungen, dass technische Dinge oder Verfahrenspraktiken erstens ausschließlich menschliche Produkte oder Handlungen seien und dass der technische Fortschritt seine volle Entwicklung zweitens erst in der Technologie der europäischen Moderne erreicht habe. Einen dritten Faktor, der den Blick auf einen egalitäreren Begriff der Technik für lange Zeit verstellte, sieht der Autor im weitgehenden Ausschluss der Körpertechniken aus den frühen technikphilosophischen Diskursen. In Auseinandersetzung mit zeitgenössischen philosophischen Positionen sowohl kontinentaler als auch analytischer Prägung entwickelt Groß Alternativen zu den ausgemachten Exklusionen und verortet in der damit anvisierten Neugewichtung des Verhältnisses von Natur, Technik und Körper die Chance für konstruktivere Selbst- und Weltverhältnisse. Eine von dem Forschungsfeld der ecology of number inspirierte kritische Perspektive auf die Zahl- und Zählsysteme der westlichen Wissenschaften und die epistemische Wirkmacht ihrer Standardisierungs- und Formalisierungsverfahren entwickelt der Beitrag von Anna Echterhölter ausgehend von einer Betrachtung der Fischereitechniken auf Watom, einer der damaligen deutschen Kolonie Papua-Neuguinea vorgelagerten Insel. Ihr Augenmerk gilt dabei den Milieuschilderungen technischer Geräte, die in den minutiösen Berichten des Missionars und Teilzeit-Ornithologen P. Otto Meyer aus dem Jahr 1913 17 18 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung mit Details zu spirituellen Praktiken angereichert waren, welche die Herstellung und den Gebrauch von Reusen, Netzen, Haken, Schwimmern, Tauen und anderen Gerätschaften bei den Tolai informierten. Mit den sogenannten Uferlandstrecken, anhand von Taulängen bemessenen Küstenverläufen, legt der Beitrag den Akzent auf eine indigene Metrik, die an der konkreten topografischen Umgebung der Insel orientiert war, dabei aber den etablierten wissenschaftlichen Vermessungsregimen der Kolonisatoren in puncto Exaktheit in nichts nachstand. Die Messung in Uferlandstrecken gilt Echterhölter als exemplarischer Fall der aus der Ethnomathematik hervorgegangenen Unterdisziplin der Ökologie der Zahl, die an situierten Praxiszusammenhängen, konkreten Gebrauchsanalysen, der Empirie von Handlungsumgebungen, kurz: an den je spezifischen Umweltzusammenhängen numerischer Systeme orientiert ist. Eine kunsthistorische und -theoretische Perspektive auf die Sphäre der Technik wird von Sebastian Egenhofer eröffnet. In der exemplarischen Analyse zweier künstlerischer Arbeiten von Herkules Segers und Sam Lewitt geht sein Beitrag der Frage nach dem Alteritätsbezug von Technik und Kunst nach. Dabei bestimmt Egenhofer das Andere der Kunst und Technik vorläufig als Natur, auch wenn er gleichzeitig festhält, dass es keine von der Natur unabhängige Kunst und Technik gebe. Während die Technik jene Naturprozesse, auf deren Grundlage sie sich einrichtet, auf mehr oder weniger gewaltsame Weise kanalisiert, einhegt und wiederholbar macht, wird der Kunst dagegen gerne ein gewaltloser Kontakt mit der Natur, dem Anderen oder dem Außen attestiert. Diesem romantischen Schema setzt Egenhofer eine nüchternere, systemtheoretische Differenzierung des Alteritätsbezugs von Technik und Kunst entgegen: Auch die Kunst kanalisiert, spaltet, filtert etc. Im Gegensatz zur Technik ist der Systembezug, den sie leistet, aber nicht physisch-realer, sondern kommunikativer und darstellender Natur. Die damit gewonnene Distanz erlaubt es der Kunst, wie Egenhofer hervorhebt und mit Segers und Lewitt vorführt, die historisch je spezifische Beziehung von System und Systemaußen, von Identität und Alterität zu reflektieren und zu modellieren. Nicht zufällig sind seine künstlerischen Beispiele dabei aus dem 17. Jahrhundert und der Gegenwart gewählt und markieren damit zwei Eckdaten einer Epoche, in der das kapitalistische Wirtschaftssystem zur vollen Entfaltung gekommen ist und jedes Außen zu annihilieren droht. Der Kapitalismus und die ihm korrespondierende KontrollgeHui. Im sellschaft bilden den Ausgangspunkt des Aufsatzes von Yuk Hui Anschluss an Deleuze rückt er darin den ursprünglich technologisch geprägten Begriff der Modulation ins Zentrum seiner Überlegungen und führt ihn zunächst als eine neue Form der Gouvernementalität ein, die nicht länger nach einer Logik des Einschlusses (Krankenhäuser, Kasernen, Schulen etc.) sowie der direkten Prägung und Formung Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven verfährt, sondern der indirekten, flexiblen und variablen Steuerung und Kontrolle. Mit Blick auf seine Genealogie verfolgt Hui den Begriff der Modulation in einem zweiten Schritt zurück in Simondons technologisches Denken, um im Anschluss dessen Relevanz für die gegenwärtige technologische Kultur herauszustellen. Abschließend stellt Hui eine mögliche Wiederaneignung der positiven Potenziale des Modulationsbegriffs zur Diskussion. Sektion II: Kontaktzonen und Subjektivierungen Auch wenn technologische Entwicklungen stets mit der Möglichkeit einhergehen, für fragwürdige machtpolitische Zwecke missbraucht zu werden, unterläuft die immanente Vielfalt des Technischen jedes einseitige Werturteil. Eine kritische Positionierung gegenüber der Sphäre der Technik und Technologie sollte sich daher weniger zwischen Technikpessimismus und Technikfaszination entscheiden müssen, als vielmehr zur Unterscheidung heterogener technologischer Tendenzen und ihrer Implikationen beitragen. Eine in diesem Sinne fruchtbare Differenzierung mag in der auf Peter Sloterdijk zurückgehenden und von Frédéric Neyrat aufgegriffenen Gegenüberstellung von Allotechnologien einerseits, Homeotechnologien andererseits ausgemacht werden: 1. »on the one hand, ›allotechnologies,‹ which name a violation of the earth, and lead to the ›destruction of primary materials.‹ The allotechnologies are applied from the outside, they are exercized by a subject (a master) who applies his power to an object (a subordinate). [...] 2. on the other hand, ›homeotechnologies‹: developed based on the paradigm of information, the ›thought of complexity‹ and ›ecology,‹ these technologies entail a strategy of ›cooperation,‹ of ›dialogue‹ with nature.« 28 Ganz im Sinne der Unterscheidung von Allo- und Homeotechnologien differenziert auch der Ökologe André Gorz zwischen »Technologien des Einschlusses« einerseits und »offenen Technologien« andererseits.29 Dabei sind es die »Technologien des Einschlusses«, die in seinen Augen auf eine radikale Monopolisierung aller Fertigkeiten und Vermögen hinauslaufen: eine Monopolisierung, die mit dem ungehemmten Kapitalismus der Gegenwart synonym ist. Im Hinblick auf die offenen Technologien andererseits rücken wir in einen weiter gespannten »posthumanen« Diskurs vor, in dem sich neuartige Kontaktzonen und Subjektivierungsweisen entfalten.30 N. Katherine Hayles hat diese jüngst auf den prägnanten Begriff der »cognitive assemblages« gebracht und damit Verbünde biologischer und technischer Kognition bezeichnet, die dadurch charakterisiert sind, dass sie ohne Bewusstsein und bewusste Wahrnehmungen agieren.31 Den umweltlichen Aspekt dieser vernetzten Assemblagen haben Alexander Galloway und Eugene Thacker mit der Formel des »elemental« beschrieben: 19 20 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung »Networks are elemental, in the sense that their dynamics operate at levels ›above‹ and ›below‹ that of the human subject. The elemental is this ambient aspect of networks, this environmental aspect – all the things that we as individuated human subjects or groups do not directly control or manipulate. The elemental is not ›the natural‹, however (a concept that we do not understand). The elemental concerns the variables and variability of scaling, from the micro level to the macro, the ways in which a network phenomenon can suddenly contract, with the most local action becoming a global pattern, and vice versa. The elemental requires us to elaborate an entire climatology of thought.« 32 Vor diesem Hintergrund bildet die perspektivische Verschiebung von der Äußerlichkeit der Umgebung hin zur »Extimität«33 des Milieus einen zentralen Einsatzpunkt, der sich diskurstheoretisch nicht zuletzt in der terminologischen Ersetzung des Paares Organismus / Umgebung durch das Paar Individuum / Milieu widerspiegelt. Im Unterschied zum organischen Modell, das den Organismus als ein in sich abgeschlossenes Ganzes auffasst, welches als eine Art Gottesurteil schlicht hinzunehmen und an den extensiven Grenzen seines Körpers ablesbar ist, nimmt das milieutheoretisch gefasste Individuum den Austausch- und Umschlagsort, die von Donna Haraway und Cary Wolfe sogenannte Kontaktzone, einer nie gänzlich abgeschlossenen Koevolution ein.34 Der Aufsatz von Marie-Luise Angerer setzt bei den porös gewordenen Grenzen zwischen natürlichen und artifiziellen Individuen an. Die daraus hervorgehenden hybriden Körper, Cyborgs im Vokabular Haraways, verortet Angerer nicht in einer nahenden Zukunft, sondern im Hier und Jetzt. Weniger als autopoietisches, Energie austauschendes System, denn als informationsverarbeitender »biomediated-body« verstanden, sind es die zunehmenden informationstechnischen Verschaltungen, die den Körper in ein komplexes organisch-technisches Milieu einlassen. Auch für das informationstechnisch gewandelte Verhältnis von Körper und Milieu bleibt das Empfindungsvermögen, das Angerer in eine quantitative, bewusste (sensing) und eine qualitative, nichtbewusste (affecting) Dimension differenziert, von zentraler Bedeutung. Die höchst brisante Frage, die sie damit aufwirft und diskutiert, betrifft die Möglichkeiten und Konsequenzen der technologischen Umwandlung von affecting in sensing. Die technomedialen Konverter geraten damit als eine Art nach Außen gestülpte Psyche in den Blick und erfordern ein radikales Umdenken der Kategorien des Bewussten und Nichtbewussten sowie der damit verknüpften Prozesse der Subjektivierung. Tomšič, der in seiEine verwandte Problematik adressiert Samo Tomšič nem Beitrag das biologisch informierte Konzept des extended organism ins Verhältnis zur psychoanalytisch motivierten These eines extended subject setzt. Dabei legt er den Fokus nicht wie Angerer auf die informationstechnisch geregelten Zonen des Nichtbewussten, Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven die Körper und Milieu miteinander verschalten, sondern auf das Unbewusste als Emergenz des Denkens aus der Selbstüberschreitung des Körpers. Mit Jacques Lacan situiert Tomšič die Ausdehnung des Denkens im Kontext der Sprache: als metonymisches Zerfließen des Subjekts entlang der Signifikantenkette einerseits, als durch den Signifikanten vollzogenen Schnitt andererseits, der im lebendigen (physiologischen, biologischen) Körper einen symbolischen (libidinösen, kulturellen) Körper hervorbringt. Auf diese Weise konstituiert sich das Subjekt des Unbewussten als Außer-sich-selbst-Seiendes und gehorcht dabei einer räumlichen Logik, die Tomšič mit derjenigen des Milieus parallelisiert. Weder innen noch außen, beschreibt er das Milieu der Subjektivierung damit als eine Zone der Extimität, die der Differenz zwischen Innen und Außen zuallererst stattgibt, sie aufrechterhält und gleichsam als provisorische enthüllt. Milieus der Individuation und Subjektivierung stehen auch im Zentrum des Aufsatzes von Angelika Seppi, Seppi der den ökosophischen, technologischen und ästhetischen Motiven nachgeht, die Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus zu einer »Universalgeschichte der Kontingenz« verspannen. Einen besonderen Fokus misst sie dabei den Konzepten des Ritornells und der Maschine bei. Gegen die apriorische Auffassung von Raum und Zeit als reinen Anschauungsformen veranschlagt die ökosophische Idee des Ritornells die »pulsierte Zeit« und den »bewohnten Raum« als Existenziale jeglicher Individuation. Das ästhetische Paradigma, das sich daraus ableitet, konfrontiert Seppi mit einem auf den ersten Blick gegenläufigen maschinellen Paradigma. Wie der Beitrag aufzeigt, ist der Begriff der Maschine bei Deleuze und Guattari aber weder als Höhepunkt des technologischen Fortschritts noch im technizistischen oder mechanischen Sinn misszuverstehen. Die maschinelle Komposition heterogener Elemente steht vielmehr am Anfang jeder Geschichte. Sie gehorcht weder einem organischen Schema noch einem technischen Determinismus, sondern artikuliert sich ihrerseits als kontingentes oder freies und in diesem Sinne nicht minder ästhetisches Zusammenspiel. Stephan Gregory untersucht in seinem Beitrag die metaphorischen Untiefen »feuchter Beschreibungen« des Verrats und damit jene im Genre des Agenten- und Spionagethrillers entsponnenen Milieuwirkungen, die sich – jenseits von Machtkalkülen, politischen Schattengefechten und strategischer Berechenbarkeit – an das Ereignis des Verrats und die Figur des Verräters binden. Bewusst legt er damit den Akzent auf Innenperspektiven und subjektive Wahrnehmungen, die den Verrat ebenso wie den Verräter erst hervorbringen und ihn in ihrem durch innere und äußere Operationen der Verstellung geprägten Werden offenlegen. In Gregorys Milieu der Verblendung, die ein Spiel mit dem Schein und ein Fest der Zeichen ist, geraten die Kontaktzonen zwischen Subjekt und Umwelt in den Bann mimetischer Anähnelung, anamorphotischer Verzerrung, psychotischer Depersonalisierung, 21 22 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung einer durch vielfältige Zeichenkonflikte bis zur Unkenntlichkeit verstellten Identität, die sich in der Drohung, enttarnt zu werden, in ihrer Umwelt auflöst. Den literarischen Modellierungen von Schutzmilieus geht Michael Cuntz in seiner Analyse von Rückzugs- und Abkapselungsszenarien bei Jean-Jacques Rousseau, Adolfo Bioy Casares und Michel Houellebecq nach und stellt mit der Durchlässigkeit und Filterfunktion des Milieus eine milieutheoretische Grundoperation zur Diskussion. Jenseits der motivischen Verbindung, welche die Betrachtungen zu Rousseaus Die Träumereien des einsamen Spaziergängers (1782), Bioy Casares’ Fluchtplan (1945) und Houellebecqs Die Möglichkeit einer Insel (2005) mit dem Topos der (einsamen, glückseligen, Straf- oder Gefängnis-) Insel teilen, weisen sie, mehr oder weniger radikal, die desaströsen Konsequenzen auf, die sich mit technosozialen Formen des Milieuschutzes verbinden. Ist die aus Rousseaus Rêveries ausgelesene Vervielfältigung literarischer Schutzmilieus noch mit dem Versprechen von Weltharmonie verbunden, so führt die Versuchsanordnung, die Bioy Casares auf seiner Gefängnisinsel durchspielt, zu einem vollständigen Kollaps sämtlicher Milieueigenschaften und -funktionen. Houellebecqs Möglichkeit einer Insel knüpft hieran nahtlos an, wenn er die Transformation der globalen Umwelt im Ende der bisherigen Spezies Mensch kulminieren lässt. Auf die Aktualisierung einer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstandenen biologischen Theorie von Organismus und Milieu zielen Rebekka Ladewigs Ausführungen zur »negativen Umwelt«, die vor dem Hintergrund der Destruktionserfahrung des Ersten Weltkriegs situiert sind. Ausgehend von experimentellen Studien, die Kurt Goldstein über viele Jahre an hirnverletzten Soldaten durchführte, zeichnet der Beitrag die genealogischen Linien eines Milieubegriffs nach, der aufs Engste an die neurologisch eingeschränkten Verhaltensgrammatiken des Individuums gebunden ist und damit gleichsam aus den Kriegsverletzungen des Organismus hervorgeht. Zugleich drückt sich in diesen neuen, durchaus bemerkenswerten Verhaltensformen ein je individuelles Vermögen der Adaption an eine mit negativen Reizen ausgestattete Umwelt aus. Mit den rekonstruierten Experimenten zum taktilen Erkennen zeigt Ladewig zudem einen aisthetischen Grundaspekt des Umweltbezugs auf, der die Grenzverläufe zwischen greifbaren und begreifbaren Anteilen der Umwelt als affektive Abwehr einer Katastrophenreaktion des Organismus vermessbar macht. Sektion III: Bilder und Medien Radikal anders als in der holistischen Sicht Goldsteins stellt sich der Zugriff auf das Verhalten des Menschen im Zeichen digitaler Medientechnologien des 21. Jahrhunderts dar. Shoshana Zuboff etwa sieht in letzteren die Voraussetzung für eine Umwandlung menschlicher Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven Erfahrungen in »Verhaltensdaten«, die zu einem hoch gehandelten Rohstoff des Überwachungskapitalismus werden und geradewegs in eine neue Form der biogovernance führen.35 Die eminent politischen Fragen, die diese neuartigen Zugriffe auf Körper und Verhalten des Menschen aufwerfen, sind im größeren Zusammenhang der medientechnologischen Umwälzungen des 21. Jahrhunderts zu situieren. Gebunden an die Verbreitung von Netzwerktechnologien, die im Zeichen distribuierter oder verteilter Kognition darauf angelegt sind, technokognitive Systeme zu einer Technosphäre zusammenzuschließen, entsteht ein neuer Typus von Medien und damit eine neue Konfiguration des Medialen. Diese Umweltmedien oder »environmental media« zeichnen sich dadurch aus, die einst klaren Konturen des Objekthaften hinter sich zu lassen und in die »computational environments« heutiger Lebenswelten zu diffundieren bzw. vollständig in einer »calculative ambience« 36 aufzugehen. Konnte Hans Blumenberg die technische Welt Anfang der 1960er–Jahre noch als klar identifizierbare »Sphäre von Gehäusen, von Verkleidungen, unspezifischen Fassaden und Blenden« bestimmen,37 eine Definition, die deutlich die Kennzeichnung der Blackbox trägt, zeichnet sich die Technologie des 21. Jahrhunderts gerade durch ein »movement of computation out of the box and into the environment« aus.38 Nach einer Phase der Miniaturisierung technischer Geräte, die ganz der in den frühen 2000er-Jahren geprägten Design-Formel »S-H-E« (shrink, hide, embody) gehorchte und in den ersten iPod-Generationen ihre wohl vollkommenste Gestaltung erfuhr,39 sind medientechnische Operationen zwischenzeitlich in unsere Umweltverhältnisse ein- und in ihnen aufgegangen. Sie betreffen damit alle und jeden, und dies umso mehr, als sie der bewussten Wahrnehmung allzu häufig entzogen bleiben. Der amerikanische Medienkünstler und -theoretiker Jordan Crandall hat die in jüngster Zeit viel beschworenen Formen präkognitiver, nicht-bewusster Wahrnehmung, die aus den zeitgenössischen Medientechnologien evolvieren (bei ihm aber ganz konventionell an den Menschen gebunden bleiben), als Spielart eines »mathematischen Sehens« beschrieben: »Through a technologically enhanced perception, a mathematical seeing, patterns come into view that previously could not be seen by the naked eye, in ways that augment, or occlude, traditional observational expertise and human intuition.«40 Wie Crandall bemerkt, vermögen die Muster, die durch die so geartete »calculative ambience« zur Erscheinung gebracht werden, unsere gewohnten Wahrnehmungsweisen nicht nur zu erweitern, sondern auch zu verstellen oder ganz zu verschließen. Mit Blick auf Crandalls mathematisches Sehen liegt es nahe, von einer neuen »Krise der Anschauung« zu sprechen. Deren historische Variante, die sich in den 1930er-Jahren Bahn brach, war mit dem im Laufe des 19. Jahrhunderts manifest gewordenen Verlust der Geometrie als Grundlage der Mathematik verbunden,41 die Gaston 23 24 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung Bachelard in seiner wissenschaftspsychologischen Diagnose auf die »philosophischen Dilemmata der Geometrie« und ihre methodischen Implikationen zurückführte.42 Sie ist damit auf einen weitreichenden epistemischen Bruch zu beziehen, der u.a. von Ernst Cassirer als eine aus der Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften abgeleitete Umstellung von (dinghaften) Substanzbegriffen auf (relationale) Funktionsbegriffe beschrieben wurde.43 Die aktuelle Anschauungskrise gründet demgegenüber in der totalisierenden Vereinnahmung einer algorithmischen Vernunft.44 Sie ist gebunden an die Logik des Digitalen, die sich in den zeitgenössischen Medientechnologien perpetuiert. Als »sensitiv« und »smart« ausgezeichnet, operieren diese Medien im Modus des tracking, tagging oder sensing – Prozessen, die unsere interfacegesteuerte und durch die Bedienung visueller Bildschirmoberflächen bestimmte Interaktion mit technischen Medien inzwischen immer schon begleiten. Mit deren rasanter Proliferation scheinen sich auch die Zugriffsverhältnisse zwischen Körper und Umwelt zusehends zu verkehren und auf die Seite einer sensorisch durchwirkten Umwelt zu verschieben.45 Ihre historischen Vorläufer finden diese Einwirkungen auf den (menschlichen und tierischen) Körper allerdings bereits in den apparativ-experimentellen Anordnungen, die die physiologischen Laboratorien des 19. Jahrhunderts bevölkerten. In den Experimentalsystemen des 19. Jahrhunderts etablierte sich durch die Verschaltung von Instrumenten, Apparaten und Körpern ein Zugriff auf das Lebendige und dessen vitale Funktionen wie Blutdruck, Puls oder Muskelzuckungen, die in grafischen Kurven aufgezeichnet wurden und damit einer Bildgebung des »inneren Milieus« stattgaben.46 / In dieser historischen Fluchtlinie ist mit Étienne-Jules Marey eine Figur aufzurufen, in welcher der medientechnische Einsatz auf den Körper in Form der chronofotografischen Analyse mit einem Zugriff auf die Umwelt konvergiert. Mareys experimentelle Aufnahmen von bewegtem Wasser entstanden in der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel und damit an einer der wichtigsten Wirkungsstätten Uexkülls. Uexküll hatte seinerseits die Technik der Chronofotografie bei Marey in Paris gelernt, um damit »dem Seeigel spürbar auf die Pelle zu rücken«.47 Als invasiv sind insofern schon die historischen Zugriffe auf die bis dato unsichtbaren Umwelten zu charakterisieren. Der Einsatz bildtechnischer Verfahren informierte indes nicht nur die empirischen Studien Uexkülls, sondern durchaus auch dessen theoretische Konzepte – etwa das der subjektiven Eigenzeit, das wesentlich durch die filmische Bildtechnik der Zeitlupe bzw. des Zeitraffers inspiriert war.48 Wenn Uexkülls Begriffe der Umwelt und »optischen Merkwelt« ihren Weg in Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz finden, um dort das Medium des Films als »Vertiefung der Apperzeption« zu kennzeichnen, werden Umwelt- und Medientheorie damit an einer entscheidenden Stelle zusammengeführt.49 Die Beiträge der • •• Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven 25 Sektion »Bilder und Medien« widmen sich dieser Schnittstelle und den mit ihr verbundenen Entwicklungen. Kathrin Friedrich untersucht in ihrem Beitrag mit dem Gegenstand des virtuellen Zauns eine Anwendung aktueller Tracking-Technologien, die im Bereich der satellitenbasierten Überwachung und (Fern-)Steuerung von Rinder- und Schafherden zum Einsatz kommt. Mittels eines elektronischen Halsbands, das wahlweise Audio- oder Elektroschocksignale sendet, werden Tiere individuell konditioniert, ihr Bewegungsradius lässt sich dabei über den Zugriff auf ein mobiles Interface und die Verknüpfung mit GPS-Daten aus der Distanz manipulieren und kontrollieren. Der zentrale Aspekt der geomedialen Praxis des virtual fencing besteht, wie der Beitrag herausstellt, in einer direkten Verschaltung von Physis und Digitalität, in der die Zugriffsmöglichkeiten adaptiver Umweltmedien auf das Lebendige ihre jüngste Zuspitzung erfahren. In der operativen Anpassung dieser Marey’scher Sphygmograph zur dauerhaften Aufzeichnung von Pulsfrequenzen als Kurven Étienne-Jules Marey inmitten seiner Erfindungen (Sphygmograph, Registriergeräte, Vogelflugmodell, Projektor, Filmkamera), um 1900 • •• 26 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung verschiedenartigen Entitäten emergiert ein interventionell gestaltetes, technologisches Milieu, das nicht länger auf die Hardware materieller Bezäunungen angewiesen ist. Während Friedrich die technologische Verschaltung von Wahrnehmungs- und Handlungsweisen in ihrem direkten Zu- und Eingriff auf den tierischen Körper analysiert, widmen sich Kate Chandler und Nina Franz in ihrer Diskussion über zeitgenössische Bildschirmkulturen visuell vermittelten Wahrnehmungsoperationen im Kontext ferngesteuerter Technologien. Damit verschiebt sich der Fokus auf jene Medien und medialen Oberflächen, die in Form von interaktiven Bildschirmen und Interfaces Informationen visualisieren, zugleich aber auch filtern, verschleiern und abschirmen. Die damit verbundenen Asymmetrien von Sichtbarkeit und Handlungsmacht werfen drängende Fragen nach der operativen Realität, nach Zugängen zu und Ausschlüssen aus dieser Realität und damit nach der Teilhabe an je spezifischen Öffentlichkeiten oder Teilöffentlichkeiten auf. Unter dem Begriff der Screen Publics erörtern Chandler und Franz diese Fragen in einem Dialog, der sie von den historischen Anfängen der ScreenTechnologie in den Echtzeitbildschirmen der Radar-Displays im Zweiten Weltkriegs bis hin zu den gegenwärtigen, über Google Maps und Echtzeit-Videokommunikation verschalteten Displays zur Steuerung unbemannter Militärdrohnen führt. Als offene Herausforderung stellen die Autorinnen die Herstellung einer kritischen Bildschirm-Öffentlichkeit heraus. Mit einer umfassenden Betrachtung zu den Milieufunktionen des Glases knüpft der Beitrag von Matthias Bruhn an die Kontakt-, Abgrenzungs- und Vermittlungsfunktionen medialer Interfaces und Oberflächen an. Ausgehend von der denkwürdigen filmischen Inszenierung der Glasscheibe in dem Kinofilm Arrival, die als Zeichenträger für den Informationsaustausch und Membran für den buchstäblichen Kontakt mit einer außerirdischen Lebensform steht, lotet Bruhn die ambivalenten Metaphoriken des Glases als transparentes, kristallines, schleierhaftes oder abdichtendes Medium aus. Gilt sein Augenmerk dabei zunächst verschiedenen medientechnischen Konfigurationen der Sichtbarmachung – dem Diorama, Aquarium, Duchamps Großem Glas, dem Gläsernen Menschen und Glasarchitekturen wie dem Crystal Palace, die je spezifische Formen von Sichtbarkeit inszenieren – , liegt ein weiterer Akzent der Ausführungen auf den fluiden Milieus des Wassers in Kombination mit der beobachtenden Kamera. Mit den experimentellen Standbildaufnahmen, die Étienne-Jules Marey von bewegtem Wasser machte, führt Bruhn uns u.a. an den historischen Anfangspunkt eines systematischen bildmedialen Zugriffs auf die Umwelt zurück. Die im Akt der sinnlichen Wahrnehmung vollzogene Gestaltung der Umwelt, wie Uexküll sie beschrieben hat, ist Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit den bild- und filmtechnischen Umwelten Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven Jacques Lacans, die Claudia Blümle in ihrem Beitrag entfaltet. Wie Lacan schon im Hinblick auf das Spiegelstadium konstatiert, ist der Umweltbezug des Menschen an eine alles andere als harmonische Spaltung geknüpft, an eine dem Subjekt eingeschriebene Zwietracht, die gleichsam vom Vorrang des Blicks (des Anderen) gegenüber der vermeintlichen Herrschaft des (eigenen) Auges herrührt. Diese von Lacan anhand der Anamorphose vorgeführte Konstellation wendet Blümle auf Uexküll selbst zurück, wenn sie anhand der berühmten Illustrationen, die seine Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen begleiten, die Blicke der Bild- bzw. Umweltobjekte herausstellt. Mit der Schlussszene von Federico Fellinis La dolce vita führt Blümle schließlich eine filmtechnische Inszenierung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Subjekt und Milieu an, die uns mit dem Blick eines auf dem Meer schwimmenden Dings konfrontiert, noch bevor unser Auge seiner habhaft zu werden vermag. Die Mathematik als Organismus und Milieu ihrer selbst herauszustellen, ist Ziel des Beitrags von Michael Friedman. Friedman In einer mathematikhistorischen Perspektivierung rekonstruiert er die wechselseitigen Relationierungen zwischen Biologie und Mathematik, wie sie sich einerseits in der Mathematisierung des Lebendigen niederschlugen, etwa in Alan Turings mathematischem Modell der Embryogenese von 1952, und andererseits in eine zunehmende Biologisierung der Mathematik einschrieben. Wie Friedman anhand der aufeinander folgenden mathematischen Leitbilder von der Maschine über die Architektur bis zum Organismus aufzeigt, übernimmt die Mathematik nach und nach Züge gerade jener Wissenschaft des Lebendigen, die ihr gewöhnlicherweise unversöhnlich gegenübergestellt werden. Mit den mathematischen Konzeptualisierungen von Felix Klein, David Hilbert und Nicolas Bourbaki gelangen diese Zuschreibungen Mitte des 20. Jahrhunderts an einen Punkt, an dem die Mathematik als lebendiger Organismus gefasst und wesentlich durch den dynamischen Prozess ihres Werdens ausgezeichnet wurde. Sektion IV: Bio- und Geopolitiken Die im Band verfolgte Blickwendung von der Ökologie der Natur zu einer Vielzahl nicht-natürlicher Ökologien und gemischter Milieus reagiert nicht zuletzt auf die Diskurse rund um das sogenannte Anthropozän. An diese neue geochronologische Epoche ist die Ergänzung der Litho-, Atmo-, Hydro- und Biosphäre um die Technosphäre gebunden,50 die mehr und anderes ist als bloß ein Derivat anthropogener technischer Objekte und Prozesse. Peter K. Haff hat die alles entscheidende Differenz in einer Verschiebung der anthropologischen (Innen-)Perspektive zu einer geotechnologisch formierten (Außen-)Perspektive beschrieben und dabei auf einen allgemeinen, allzu menschlichen Irrtum hingewiesen: »Because we design, manufacture, deploy and maintain many of the parts, or ›artefacts‹, of which technology is composed, and then • 27 28 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung network them together to obtain a desired function, it is natural for humans to see the technosphere from the ›inside‹ and to think of it as a purely derivative phenomenon, dependent entirely on humans for its creation and continued existence.« 51 Technosphärische Aktivität ist demgegenüber wesentlich als Eigenaktivität zu fassen. Sie ereignet sich in einem autonom ausgebildeten technischen Milieu, umfasst natürliche wie nicht-natürliche Komponenten und reicht damit weit über den Menschen hinaus. Gleichwohl betreffen technosphärische Prozesse nicht nur den Planeten selbst, sie unterwerfen auch und insbesondere die Geschichte des Menschen auf der Erde einem fundamentalen Wandel. Bio- und geopolitische Aspekte sind dabei gleichermaßen betroffen und stets aufeinander bezogen. Ihre historischen Fluchtlinien verlaufen von der Humangeografie Carl Ritters, der »die menschliche Geschichte nicht ohne die Bindung des Menschen an den Boden« und diesen u.a. auch als »biologisches Erkenntnisobjekt« begreifen wollte,52 über die Anthropogeografie Friedrich Ratzels geradewegs in die bio- und geopolitischen Katastrophen des Dritten Reichs. Gerade mit Blick auf die von Haff problematisierte Immanenz ist darüber hinaus festzuhalten, dass die Technosphäre keineswegs auf die Oberfläche der Erde begrenzt bleibt. Wenngleich sie diese umhüllt, reicht sie doch weit über den Erdball hinaus. Die Verschränkung technologischer, bio- und geopolitischer Aspekte wird umso augenfälliger, wenn man bedenkt, dass einer der Ausgangs- und zugleich Fluchtpunkte der zeitgenössischen biotechnologischen Machbarkeitsphantasien gerade in der Raumfahrtmedizin auszumachen ist. Um • Earth’s City Lights, Daten erhoben von DMSP zwischen 1994 und 1995 Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven den territorialen Ausgriff in den Kosmos zu ermöglichen (welcher bei Humboldt noch als »Synthese der Erkenntnisse über das Leben auf der Erde und die Beziehungen des Lebens zum physischen Milieu« figurierte),53 wurde die Entfesselung einer raumfahrtmedizinischen Entwicklung nötig, die auf die Einrichtung lebenserhaltender Atmosphären in einem radikalen Außen der Erde zielte und damit die Gestaltung des menschlichen Lebens und die seines Lebensraums in eins setzte.54 Nicht zufällig ist der*die Cyborg eine Schöpfung des Space Age, und noch weniger überraschend ist es, dass die beiden Väter und Namensgeber dieser hybriden Figur in ihrer Erörterung der Gestaltungsfragen die gezielte Veränderung der Organfunktionen des Menschen einer Einrichtung irdisch-lebenserhaltender Atmosphären im Weltraum vorzogen: »Altering man’s bodily functions to meet the requirements of extraterrestrial environments would be more logical than providing an earthly environment for him in space. Artifact-organism systems which would then extend man’s unconscious, self-regulatory controls are one possibility.« 55 In dieser exzentrischen Konfiguration erfährt die Relationierung zwischen Organismus und Milieu eine Akzentuierung, die für die Lebenswissenschaften des 20. Jahrhunderts insgesamt als wegweisend herauszustellen ist. War dieses Verhältnis, wie einleitend beschrieben, immer schon durch einen genuin technisch vermittelten Kräftekonflikt gekennzeichnet, so ist die Technologie bei Clynes und Kline zu einem alles beherrschenden Moment geworden. Die alte mechanistische Vorstellung, wonach die Einwirkungen des Milieus auf den Organismus als primär galt, erfährt hier eine technokratische Wendung, wenn diese Milieus hochtechnologisch auf- und ausgerüstet sind und die Technologie ihrerseits an das Leben selbst angelegt wird. In mehrfacher Hinsicht geht mit der Autonomie gegenwärtiger technologischer Gefüge eine zunehmende Erosion vermeintlich klar konturierter Grenzen einher: der äußeren Grenzen der Erde ebenso wie der inneren Grenzen zwischen dem Individuum und seinem Milieu oder der theoretischen Grenzen zwischen den »aus sich selbst wachsenden« Naturdingen einerseits und den »technisch hervorgebrachten« Kulturdingen andererseits. Damit scheint sich nicht zuletzt der »große Unterschied« von Natur und Kultur und mit ihm die Architektur westlicher Wissensbestände in ein immer durchlässiger werdendes Netz von Verwandtschaften und lediglich graduellen Differenzen aufzulösen.56 Die technosphärische Aktivität, die sich der Verfügungsgewalt des Menschen auf ebenso listige Weise zu entziehen vermag wie jeder vermeintlichen Teleologie, konfrontiert uns darüber hinaus mit einer fundamentalen Desillusionierung: Nicht nur entlarvt sie den Menschen als mehr oder weniger blinden Co-Passagier des Raumschiffs Erde, sie untermauert außerdem, dass die Reise von jeher ins Ungewisse führte. So begrüßenswert sich die damit verbundene •• 29 30 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung Erschütterung des westlichen Anthropozentrismus ausnimmt, so bedenklich erweist sich die von diversen technoökologischen Konstruktivismen im Umkehrschluss beschworene Allmachbarkeit. Auf dem Spiel steht diesbezüglich nicht weniger als die Möglichkeit einer politischen Entscheidung darüber, was gemacht werden soll und was nicht – und zwar jenseits der Automatismen von blinder Entwicklungswut und ökonomischem Kalkül.57 Die in eminenter Weise politische Dimension des Milieu-Konzepts wird von einer Großzahl der Autor*innen dieses Bandes auf implizite Weise mitverhandelt und bildet den expliziten Gegenstand der Beiträge der vierten Sektion. •• Cyborg-Erfinder Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline mit Ausdruck von Atemfrequenz, vorhergesagtem Puls und aktuell vermessenem Puls eines Probanden, 1960 Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven So beleuchtet Bernard Stiegler in seinen Ausführungen zur »Industrie der Spuren« die Unterwerfung des Politischen unter eine neue Form der Ökonomie, die auf Big Data, Cookies, Tags und anderen Technologien der Nachverfolgung beruht. Dabei ergänzt er die durchgehende Ökonomisierung, Automatisierung und Industrialisierung unserer Existenzweisen um eine ebenso automatische, nämlich algorithmische Form der Gouvernementalität, die auf der Implementierung digitaler Formen der Kontrolle basiert. Damit entwickelt Stiegler die politischen Konsequenzen einer »Modulation nach der Kontrolle«, deren technikphilosophische Implikationen insbesondere der Aufsatz von Yuk Hui adressiert. Die sogenannte smartification, wie der Prozess der gegenwärtigen medientechnologischen Transformationen gerne bezeichnet wird, gibt Stiegler als vorläufigen Höhepunkt einer umfassenden Proletarisierung zu bedenken, die das 21. Jahrhundert – nach dem Verlust des savoirfaire im 19. Jahrhundert und des savoir-vivre im 20. Jahrhundert – nunmehr mit dem Verlust des theoretischen Wissens konfrontiert und es damit als Zeitalter systemischer Dummheit zu stehen kommen lässt. Am Beispiel jüngster Entwicklungen in der Volksrepublik China nimmt Bernd Bösel in seinem Beitrag eine Konkretisierung biopolitischer Kontrolltechniken vor. Maßnahmen wie die Internierung von mindestens einer Million Uiguren und anderen Angehörigen muslimischer Minderheiten im autonomen Gebiet Xinjiang einerseits, die stufenweise Einführung eines »social credit system« andererseits, veranlassen den Autor zu einer Neubewertung der Frage der Milieukontrolle, wie sie der Psychiater Robert Jay Lifton in den 1960er-Jahren formuliert hat. Die diesbezüglich geprägten Begriffe von »brainwashing«, »mind control« und »Totalismus« zieht Bösel heran, um die – nicht nur auf China beschränkten – Anzeichen eines digitalen Totalitarismus zu diskutieren. Ausgehend von dem CRISPR- (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) Verfahren, das die Erzeugung gentechnisch veränderter Organismen ermöglicht, nimmt der Beitrag von Martin Müller den letzten großen Coup der zeitgenössischen synthetischen Biologie zum Anlass, um die darin vollzogene Verbindung von angewandter Wissenschaft und Biopolitik einer kritischen Historisierung und Theoretisierung zu unterziehen. Dabei schlägt er vor, die Institutionalisierung der synthetischen Biologie im Jahr 2004 als eine dritte Proliferation der Biopolitik zu lesen, der die »Geburt der Biopolitik« um 1800 sowie die Erfindung des genetischen Codes in den 1940er-Jahren vorausgegangen waren. Entlang dieser drei historischen Marken zeichnet Müller die Entwicklung der modernen Biopolitik nach und stellt sie zugleich in den Kontext einer Ideologie der technologischen Überschreitung und Machbarkeit, die im anthropozänen Terraforming zu kollabieren droht. 31 32 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung Um die Frage menschengemachter Welten kreist auch der Aufsatz von Felicity D. Scott Scott, wobei die Autorin den Blick von der Gestaltung des Lebens auf der Erde auf die Diskurse der Weltraumkolonisation lenkt, die in den 1970er-Jahren, aus ihren phantastischen und Science-Fictionhaften Anfängen herausgelöst, zum konkreten Gegenstand der Ingenieurswissenschaften wurden und in Jesco von Puttkamer einen vehementen Vertreter fanden. Die von Canguilhem als wechselseitige Auseinandersetzung gefasste Beziehung zwischen dem Individuum und seinem Milieu liest Scott als missverstandene Legitimationsgrundlage eines techno- und biopolitischen Zurichtungswillens, der selbst an den Grenzen der Erde nicht Halt macht. Mit dem Diskurs um die Kolonisation des Weltraums zieht sie ein Extrembeispiel künstlicher Umwelten heran, mit dem sie nicht zuletzt an die Frage danach erinnern will, wer die Zügel zur Gestaltung gegenwärtiger und zukünftiger Umwelten in den Händen hält und wie dagegen ein Raum für eine egalitärere politische Mitbestimmung eröffnet werden könnte. Mit dem Beitrag von Birgit Schneider kehren wir zu irdischen Infrastrukturen zurück und wenden uns einer geopolitischen Fallstudie zu, die im Hinblick auf ein immer enger und leistungsfähiger, d.h. schneller werdendes Funknetz der Verwandlung unserer Lebensräume in elektromagnetische Felder nachgeht. Den Fokus ihrer Darstellung legt Schneider auf die gestalterischen Strategien der Tarnung von Technik und ihrer Anähnelung an urbane Umwelten sowie auf künstlerische Strategien und Interventionen der Enttarnung. Anhand von Marshall McLuhans Konzept des Gegen-Environments diskutiert die Autorin zudem die Frage nach den politischen Implikationen der Un- / Sichtbarkeit. Seinerseits an der Begrifflichkeit von Environment und Gegenbzw. Counter-Environment orientiert, rekonstruiert der Beitrag von Petra Löffler wesentliche Aspekte einer Geopolitik und Ästhetik nach McLuhan. Dabei fragt sie insbesondere nach den Möglichkeiten, spezifischen technologischen Umgebungen auf subversive Weise zu begegnen, nach dem taktischen Einsatz der von McLuhan angerufenen Praktiken der Dislozierung und nach ihren zeitgenössischen geopolitischen Aktualisierungen. Die Arbeiten des Recherchekollektivs Forensic Architecture werden von der Autorin dabei als beispielhafte Artikulationen eines Counter-Counter-Environments vorgestellt. Ästhetische Intervalle und Überkreuzungen Nicht erst mit Blick auf die künstlerischen Prozesse der Sichtbarmachung verborgener Milieuzusammenhänge ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Milieu in mehrfacher Hinsicht immer auch als eine ästhetische zu betrachten. Erstens sind Milieufragen immer auch Fragen der Milieuwahrnehmung, der aisthesis. Dies wird insbesondere in den Arbeiten Uexkülls und Goldsteins deutlich. Wenn das Lebewesen, wie es Canguil- Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven hem in Bezug auf den mit Uexküll und Goldstein verbundenen Wandel milieutheoretischer Grundlagen herausstellt, von der »Maschine, die mit Bewegungen auf Reize reagiert«, zum »Maschinist[en], der mit Handlungen auf Signale reagiert«,58 so ist der Übergang von Reiz und Bewegung zu Signal und Handlung ein Effekt der Wahrnehmung. Sie ist es, welche das materielle Kontinuum, die vermeintlich lückenlose Kette von Milieureizen und individuellen Reaktionen, in ein Ensemble von Intervallen auffaltet und so einen Abstand eröffnet, der im Sinne Deleuzes als eine Art Zentrum der Indetermination fungiert.59 Erinnert sei diesbezüglich an die schlichte, aber äußerst folgenreiche Beobachtung Uexkülls, dass das Lebewesen seiner physisch-geografischen Umgebung und ihrer theoretisch unbegrenzten Anzahl an Reizen lediglich einige wenige Merkmale entnimmt, die fortan seine spezifische Umwelt bilden. Während das Lebewesen also einem Großteil potenzieller Reize gleichgültig gegenübersteht und diese gewissermaßen ohne Kenntnisnahme und Reaktion durch sich hindurchgehen lässt, werden andere bemerkenswerte Reize isoliert und eben dadurch zu Signalen. Betrifft die Isolation bemerkenswerter Reize die rezeptive oder sensorische Seite des Lebewesens, werden auf der anderen, reaktiven oder aktiven Seite die ausgeführten Reaktionen nicht mehr unmittelbar mit der Einwirkung verknüpft, sondern qua Intervall zu aufgeschobenen Reaktionen und eben dadurch zu Handlungen. / Sowohl hinsichtlich der rezeptiven oder sensorischen als auch hinsichtlich der reaktiven bzw. aktiven Seite kommt dem Lebewesen damit ein bestimmtes Maß der Indetermination oder Freiheit zu. Die Indetermination oder Freiheit des Lebendigen ist damit wesentlich als aisthetische zu bestimmen. Zweitens und in Hinsicht auf die techno-ästhetischen Milieus des Menschen lassen sich Techniken und Technologien in der Fortsetzung der angezeigten Denkbewegung als eine Art Verstärker des aisthetisch eröffneten Abstands betrachten. Die Filter und Falten der Wahrnehmung verdoppeln sich damit in den Filtern und Faltungen technischer Fertigkeiten, Objekte und Kunstgriffe verschiedenster Art. Sie sind es, die dem anthropologischen Subjekt eine relative Autonomie gewähren, auch wenn die technoästhetisch ermöglichte Autonomie sich jederzeit in eine Heteronomie zu verkehren vermag.60 Aus den beiden angeführten Hinsichten ergibt sich drittens die Möglichkeit einer Wiederannäherung jener beiden von Kant fein säuberlich getrennten Bereiche der Ästhetik: der sinnlichen Wahrnehmung einerseits und der künstlerischen Produktions- und Rezeptionsprozesse andererseits. Beiden kommt aus milieutheoretischer Perspektive ein genuin kreativer Anteil zu: Von den elementarsten biologischen bis hin zu den elaboriertesten künstlerischen Formen des Ausdrucks zieht sich eine Linie der évolution créatrice, in der sich das Universum der Zwecke und Notwendigkeiten und dasjenige der Freiheit von jeher überkreuzen. • •• 33 34 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung Den vielfältigen Überkreuzungen nachzugehen, die sich am Konzept des Milieus abzeichnen, ist eines der Grundmotive des vorliegenden Bandes. Als seine Herausgeberinnen sind wir von einer Vielzahl offener Fragen ausgegangen. Gemeinsam mit den Autor*innen schlagen wir eine Vielzahl möglicher Antworten vor. Sie sind weder einstimmig noch universell, sondern vielstimmige und partikuläre Fragmente einer technologischen und ästhetischen Perspektivierung des Milieus. • Merkwelt und Wirkwelt nach Jakob von Uexküll Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven Paul Klee: Bildnerische Gestaltungslehre: Anhang (Illustration zu »Wege des Naturstudiums«), Feder auf Papier auf Karton, 33×21 cm 35 •• 36 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung 1 Vgl. https://www.worldometers. info/coronavirus/ (zuletzt aufgerufen am 29.3.2020). Worldometer besteht aus einem internationalen Team von Entwickler*innen, Wissenschaftler*innen und ehrenamtlichen Helfer*innen, die das Ziel verfolgen, globale und für das Zeitgeschehen relevante Statistiken einem weiten Publikum zugänglich zu machen. Die COVID19-Daten setzen sich aus den entsprechenden Angaben offizieller Berichte zusammen, die entweder direkt aus den Kommunikationskanälen der jeweiligen Regierungen oder indirekt aus lokalen und als vertrauenswürdig eingestuften medialen Quellen stammen. Die Vertrauenswürdigkeit von Worldometer wird ihrerseits von dem Johns Hopkins CSSE, der Financial Times, der New York Times u.a.m. bestätigt. Da die Beiträge dieses Bandes lange vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie entstanden sind, konnte nur mehr in der Einleitung auf die veränderte Situation Bezug genommen werden. 2 Vgl. Roberto Esposito: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, übers. v. Sabine Schulz, Berlin / Zürich 2004 [2002]. 3 Vgl. Ivan Krastev: »Seven Early Lessons from the Corona Virus. Views from the Council«, https://tinyurl.com/ ya4tlwkc (zuletzt aufgerufen am 29.3.2020). 4 Michel Foucault zufolge markiert die Moderne den Übergang zwischen zwei Formen der Souveränität: einer vormodernen nekropolitischen, die in der gewaltsamen Verfügung über den Tod besteht, und einer modernen biopolitischen, die in der gewaltlosen Verwaltung des Lebens ihr Wesen hat. Achille Mbembe zufolge reicht die Foucault’sche Unterscheidung nicht hin, um die modernen Formen der Macht zu erklären, die vielmehr von einem Fortbestand nekropolitischer Techniken zeugen und vor allem im Zusammenhang von Kapitalismus und Kolonialismus zu situieren sind. Wie Mbembe oder Saidiya Hartman in Bezug auf die Sklaverei gezeigt haben, war die Möglichkeit, menschliches Leben in ein Objekt wirtschaftlichen Austausches zu verwandeln, für den Fortschritt kapitalistischer Ökonomien essenziell. Die herausgestellte Verbindung zwischen Gewalt und Souveränität einerseits, der Freiheit des Subjekts und der freien Zirkulation des Kapitals andererseits wird auch im zeitgenössischen Feminismus- und Transgender-Diskurs weiterverfolgt und auf die Fortdauer sexueller Gewalt gegen Frauen und geschlechtliche Minoritäten hin diskutiert. Mit Nekropolitik sind folglich der Ort und die Funktion einer verallgemeinerten Instrumentalisierung des (menschlichen ebenso wie tierischen und vegetativen) Lebens und seiner materiellen Zerstörung in Form von Kriegen, gewaltsamer Wirtschaftspolitik, Rassismus, Sexismus, ökologischer Ausbeutung etc. angezeigt. 5 Erich Hörl: »Introduction to General Ecology. The Ecologization of Thinking«, in: Ders. (Hg.), mit James Edward Burton, General Ecology. The New Ecological Paradigm, London 2017, S. 1 — 75, hier S. 1. 6 Eine Übersicht über die Karriere der Ökologie – ihren Status als Teildisziplin der Biologie, als Metawissenschaft und als gesellschaftliche Bewegung – bietet Ludwig Trepl: Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 10 Vorlesungen, Frankfurt am Main 1994. 7 Florian Sprenger: Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher environments, Bielefeld 2019, S. 10. Zu gemischten Milieus vgl. Maria Muhle: »Mixed Milieus. Vom Vitalen zum biopolitischen Milieu«, in: Christina Wessely / Florian Huber (Hg.), Milieu. Umgebungen des Lebendigen in der Moderne, Paderborn 2019, S. 35 — 48. 8 Georges Canguilhem: »Das Lebendige und sein Milieu«, in: Ders., Die Erkenntnis des Lebens, übers. v. Till Bardoux, Maria Muhle und Francesca Raimondi, Berlin 2009 [1952], S. 233 — 279, hier S. 243. 9 Gilbert Simondon: L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information, Grenoble 2005 [1964]; ders.: L’individuation psychique et collective, Paris 1989; ders.: L’individu et sa genèse physico-biologique, Paris 1964; ders.: Die Existenzweise technischer Objekte, übers. v. Michael Cuntz, Berlin / Zürich 2012 [1958]. 10 Bernard Stiegler: »Milieu«, http:// arsindustrialis.org/milieu (zuletzt aufgerufen am 29.3.2020, eigene Übers.). Die Unterscheidung zwischen einer dem Organismus äußerlichen Umgebung und einem weder Innen noch Außen liegenden, sondern intermedial gefassten Milieu ist freilich nicht ausschließlich im französischen Wissenschaftskontext thematisiert worden, sondern auch und insbesondere von Jakob von Uexküll und Kurt Goldstein. Dazu mehr im Folgenden. 11 Canguilhem, »Das Lebendige und sein Milieu«, S. 233. 12 Ebd. 13 Vgl. Leo Spitzer: »Milieu and Ambiance. An Essay in Historical Semantics«, in: Philosophy and Phenomenological Research, 3 (1942), S. 1 — 42. 14 Canguilhem, »Das Lebendige und sein Milieu«, S. 235f. (Hervorh. i.O.). Newton wird an dieser Stelle auch die Übertragung des Milieubegriffs von der Physik auf die Biologie zugeschrieben. Der Lichtäther wurde nämlich nicht nur in Hinsicht auf das physikalische Problem der Lichtübertragung, sondern auch auf das physiologische Problem des Sehens diskutiert. Canguilhem bezieht sich hier insbesondere auf Léon Bloch: Les Origines de la théorie de l’éther et la physique de Newton, Paris 1908. 15 Sowohl Lamarcks als auch Darwins Positionen wären, wenn auch mit je unterschiedlichen Vorzeichen, von der hier dargestellten mechanistischen Prägung abzugrenzen. Insbesondere Lamarcks Begriff des Bedürfnisses problematisiert die allzu einfache Auffassung einer unmittelbaren Determination des Individuums durch sein Milieu. Vgl. hierzu Peter Berz: »Die Lebewesen und ihre Medien«, in: Thomas Brandstetter / Karin Harrasser / Günther Friesinger (Hg.), Ambiente. Das Leben und seine Räume, Wien 2009, S. 23 — 49. 16 Siehe hierzu die Beiträge von Claudia Blümle und Rebekka Ladewig in diesem Band. 17 Canguilhem, »Das Lebendige und sein Milieu«, S. 260. 18 Thomas Brandstetter / Karin Harrasser: »Einleitung«, in: Brandstetter / Harrasser / Friesinger, Ambiente, S. 9 — 20, hier S. 11. 19 Im oben angeführten Sinne Milieu Fragmente: Technologische und ästhetische Perspektiven argumentiert auch Benjamin Bühler, wenn er als verbindende Merkmale der unterschiedlichen neovitalistischen Strömungen seit den 1880er-Jahren den Fokus auf die Beziehung von Organismus und Umwelt sowie deren Modellierung mit der Metapher des Kreises herausstellt: »[O]b als Lebens-, Bedeutungs-, Funktions-, Gestalt-, Regeloder Kulturkreis«, die Metapher des Kreises konstituiere den Organismus als selbstregulierendes System. Vgl. ders.: »Kreise des Lebendigen. Geschlossene und offene Räume in der Umweltlehre und philosophischen Anthropologie«, in: Brandstetter / Harrasser / Friesinger, Ambiente, S. 67 — 91, hier S. 70. Von der Biopolitik im Foucault’schen Sinne zum selbstregulierenden System sei es nur ein kleiner Schritt: »Denn die Konzeption des Organismus als sich selbstregulierendes System versenkt etwas in den Organismus selbst, was bislang als Regulierungstechnologien auf die Bevölkerung ausgerichtet war, ob in Gestalt von Geburten- und Sterberaten oder Statistiken zur Häufigkeit und Verteilung bestimmter Krankheiten: In diesen Theorien [...] wird das Steuerungsdispositiv in den Organismus selbst verlagert. Leben ist damit nicht schlicht Gegenstand von Regulierungstechnologien, sondern konstituiert vielmehr selbst die Notwendigkeit seiner Steuerung und Regulierung. Daher gelangen denn auch die biologischen Fassungen zurück in die Sphäre des Politischen, indem ihre Steuerungskonzepte zurück auf die Bevölkerung übertragen werden.« Ebd., S. 71. 20 André Leroi-Gourhan: La geste et la parole, Bd. 1: Technique et langage, Paris 1964; Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964. 21 Vgl. Erhard Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«, in: Archiv für Mediengeschichte. Themenschwerpunkt: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), 2006, S. 87 — 110. 22 Vgl. Marcel Mauss: »Les techniques du corps«, in: Journal de Psychologie, 32 / 3 — 4 (1936), S. 271 — 293. Siehe dazu auch Erhard Schüttpelz: »Körpertechniken«, in: Zeitschrift für Medien – und Kulturfor- schung, 1 (2010), S. 101 — 120. 23 Zum Konzept der Operationskette siehe Marcel Mauss: Manuel d’ethnographie, Paris 1967 [1926], S. 29, 34, 41f.; André Leroi-Gourhan: La geste et la parole, Bd. 2: La mémoire et les rythmes, Paris 1965, hier insbes. die Kapitel »La libération de la mémoire« und »Le geste et le programme«; André-Georges Haudricourt: La technologie, science humaine. Recherches d’histoire et d’ethnologie des techniques, Paris 1988, S. 157f. 24 Stiegler, »Milieu« (Hervorh. i.O.). 25 Zur Technologie als Humanwissenschaft vgl. den Aufsatz von André-Georges Haudricourt: »La technologie, science humaine«, in: La Pensée, 115 (1964), S. 28 — 35. Sehr früh schon hat Haudricourt die Technik als Alleinstellungsmerkmal des Menschen zurückgewiesen. Vgl. hierzu Michael Cuntz: »Kommentar«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 1 (2010), S. 89 — 100. 26 Claude Bernard entlehnte das Konzept des milieu intérieur dem Histologen Charles-Philippe Robin, bei dem das milieu de l’intérieur als Synonym für die körperlichen Säfte stand. In seinem ab 1854 einsetzenden Gebrauch bezeichnet es für Bernard schlicht das Blut, dessen Temperatur ihm als regulierende Größe des tierischen Lebens galt. Schon hierin deutet sich die später theoretisierte Figur der Homöostase an. Im Zusammenhang mit der Entdeckung der glykogenen Funktion der Leber weitete Bernard das Konzept des inneren Milieus auf alle »flüssigen Medien« des Körpers aus. Vgl. Claude Bernard: Leçons sur les phénomènes de la vie, communs aux animaux et aux végétaux 1, Paris 1878. 27 Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, S. 55. 28 Frédéric Neyrat: »Elements for an Ecology of Separation. Beyond Ecological Constructivism«, übers. v. James Burton, in: Hörl, General Ecology, S. 101 — 129, hier S. 115f. 29 Vgl. André Gorz: L’immatériel, Paris 2003. 30 Vgl. u.a. Donna Haraway: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991; N. Kathrin Hayles: How We Became Posthuman, Chicago 1999; Rosi Braidotti: The Posthuman, Cambridge 2013. 37 31 N. Katherine Hayles: Unthought. The Power of the Cognitive Nonconscious, Chicago / London 2017. 32 Alexander Galloway / Eugene Thacker: The Exploit. A Theory of Networks, Minneapolis 2007, S. 157. 33 Siehe den Beitrag von Samo Tomšič in diesem Band. 34 Vgl. Donna J. Haraway / Cary Wolfe: »Companions in Conversation«, in: Dies., Manifestly Haraway, Minneapolis 2016, S. 199 — 298, hier S. 250. In Bezug auf Lynn Margulis’ Arbeiten zur Endosymbiose und Symbiogenese sowie im Einklang mit Wissenschaftlern wie Scott F. Gilbert, Jan Sapp oder Alfred Tauber hat Haraway das Konzept eines bereits auf der rein biologischen Ebene wirksamen gegenseitigen worlding veranschlagt, mit allen Konsequenzen, die sich daraus für die Auffassung des Individuums ergeben. In dem Aufsatz »A Symbiotic View of Life: We Have Never Been Individuals«, in: The Quarterly Review of Biology, 87 / 4 (2012), S. 326, schreibt Haraway diesbezüglich: »The discovery of symbiosis throughout the animal kingdom is fundamentally transforming the classical conception of an insular individuality into one in which interactive relationships among species blur the boundaries of the organism and obscure the notion of essential identity.« Haraway und Wolfe entleihen den Begriff der »contact zone« von Mary Louise Pratt, die damit die sozialen Räume des Aufeinandertreffens verschiedener Kulturen und asymmetrischer Machtrelationen insbesondere im Kontext des Kolonialismus und der Geschichte der Sklaverei bezeichnet hat. Vgl. Mary Louise Pratt: »Arts of the Contact Zone«, in: Profession, 1991, S. 33 — 40. 35 Shoshana Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power, New York 2019. 36 Jordan Crandall: »The Geospatialization of Calculative Operations: Tracking, Sensing and Megacities«, in: Theory, Culture & Society, 27 / 6 (2010), S. 68 — 90, hier S. 87. 37 Vgl. Hans Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie« [1963], in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, 38 Rebekka Ladewig, Angelika Seppi: Milieu 2020. Eine Einleitung Stuttgart 2009, S. 7—54, hier S. 53. 38 N. Katherine Hayles: »RFID. Human Agency and Meaning in Information-Intensive Environments«, in: Theory, Culture & Society, 26 (2009), S. 47 — 72; dies.: »Cybernetics«, in: William J.T. Mitchell / Mark B.N. Hansen (Hg.), Critical Terms for Media Studies, Chicago 2010, S. 145 — 156, hier S. 148. 39 Vgl. hierzu John Maeda: The Laws of Simplicity. Design, Technology, Business, Life, Cambridge (Mass.) / London 2006, S. 24ff. 40 Crandall, »The Geospatialization of Calculative Operations«, S. 75. 41 Vgl. hierzu Hans Hahn, »Die Krise der Anschauung« [1933], in: Brian McGuinness (Hg.), Hans Hahn. Logik, Empirismus, Mathematik, Frankfurt am Main 1988, S. 86 — 114; sowie ausführlicher Klaus Th. Volkert: Die Krise der Anschauung. Studien zur Wissenschafts-, Sozial- und Bildungsgeschichte der Mathematik, Göttingen 1986. 42 Vgl. Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt am Main 1988 [1934], insbes. S. 26ff. 43 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchung über die Grundlagen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. Cassirers Werk entstand u.a. in Auseinandersetzung mit dem »Erlanger Programm« des Mathematikers Felix Klein, der die Geometrie als »reine Beziehungslehre [definierte], die gestattet, unterschiedliche Geometrien ineinander zu übersetzen«. Vgl. hierzu Nils Röller: Medientheorie im epistemischen Übergang. Hermann Weyls Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen im Wechselverhältnis, Weimar 2002, S. 42. Kleins Geometrie ist u.a. Gegenstand des Beitrags von Michael Friedman in dieser Sektion. 44 Vgl. hierzu Paolo Totaro / Domenico Ninno: »The Concept of Algorithm as an Interpretative Key of Modern Rationality«, in: Theory, Culture & Society, 31 / 4 (2014), S. 29 — 49. 45 Vgl. hierzu Mark Andrejevic / Mark Burdon: »Defining the Sensor Society«, in: Television & New Media, 16 / 1 (2015), S. 19 — 36. 46 Vgl. hierzu Henning Schmidgen: Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit, Berlin 2009. 47 Brief vom 22. November 1898 von Jakob von Uexküll an die Zoologische Station Neapel (Archiv der Zoologischen Station Neapel), zit. n.d.O., in: Katja Kynast: »Kinematografie als Medium der Umweltforschung Jakob von Uexkülls«, in: Bild – Wissen – Technik, 4 (2010), S. 1 — 14. Hierzu auch Marta Braun: Picturing Time: The Work of Étienne-Jules Marey (1830 — 1904), Chicago / London 1992. 48 Vgl. Kynast, »Kinematografie als Medium der Umweltforschung Jakob von Uexkülls«; siehe auch den Beitrag von Matthias Bruhn in diesem Band. 49 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, [dritte Fassung, 1936 — 39], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Teil 2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 471 — 508, hier S. 498. 50 Vgl. Peter Haff: »Humans and Technology in the Anthropocene: Six Rules«, in: The Anthropocene Review, 1 / 2 (2014), S. 125 — 136; ders.: »Technology as a Geological Phenomenon: Implications for Human Well-Being«, in: Colin N. Waters et. al. (Hg.), A Stratigraphical Basis for the Anthropocene, Geological Society London: Special Publications 395, London 2013. 51 Peter K. Haff, »Technology as a Geological Phenomenon«, o.S. 52 Canguilhem, »Das Lebendige und sein Milieu«, S. 251. 53 Ebd. 54 Zur damit verschobenen Maßstäblichkeit des menschlichen Lebens siehe den Beitrag von Felicity Scott in dieser Sektion. 55 Manfred E. Clynes / Nathan S. Kline: »Cyborgs and Space«, in: Astronautics, 9 (1960), S. 26 — 27, 74 — 76, hier S. 26. 56 In Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2008 [1991], unterzieht Bruno Latour die für die moderne Wissenschaft konstitutive Grenzziehung zwischen Natur und Kultur einer kritischen Revision. Der »große Unterschied« zwischen natürlichen und kulturellen bzw. gesellschaftlichen Instanzen wird dabei als Effekt eines weiteren und vorgängigen Differenzierungsversuches gelesen, als definitorische Abgrenzung des Menschlichen vom Nicht-Menschlichen. Latours Revision zielt dabei auf den Ausweis des illusionären Charakters des »großen Unterschiedes« und ist von der Hoffnung getragen, diesseits der als desaströs ausgewiesenen asymmetrischen Verteilung natürlicher und gesellschaftlicher, menschlicher und nicht-menschlicher Instanzen, eine verloren gegangene Symmetrie zu rehabilitieren. 57 Vgl. hierzu Neyrat, »Elements for an Ecology of Separation«, insbes. S. 101 — 103. 58 Canguilhem, »Das Lebendige und sein Milieu«, S. 262. 59 Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs–Bild. Kino I, übers. v. Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt am Main 1997 [1983], S. 91 — 97. Intervall bzw. Abstand bilden in Deleuzes Ausführungen zum Bewegungs-Bild und in Anlehnung an Henri Bergson die erste Ebene der Subjektivierung der Materie. Dabei wird die Materie selbst als Bild im Sinne der Einheit von Licht und Bewegung aufgefasst. Während die Materie als ursprüngliches Bewegungs-Bild definiert wird, als Immanenzebene, die alle Bilder in sich begreift und auf der alle Bilder nach allen Seiten aufeinander reagieren, tritt mit dem Lebendigen ein besonderes Bild auf, das sich dadurch auszeichnet, gerade nicht nach allen, sondern lediglich nach ausgewählten Seiten hin zu reagieren. Damit ist die erste Ebene der Subjektivierung der Materie angezeigt und als Wahrnehmungs-Bild benannt. 60 Ein derartig pharmakologisches Verständnis der téchne ist in vielfacher Hinsicht von Jacques Derrida vorbereitet und von Bernard Stiegler konkretisiert worden. Sektion I: Techniken und Technologien 39