Blogbeitrag

„Du hättest auch meine Mutter sein können.“

Nella Rausch erhielt 2015 die Diagnose Non-Hodgkin Lymphom. Fast sieben Jahre später blickt die 56-Jährige zurück auf die Zeit nach der Diagnose, vor allem aber auf die Zukunft, auf das geschenkte zweite Leben, das sie durch die Stammzellspende von Falk Perpeet erhalten hat.

21.06.2022

Es gibt Texte, die gehen mir leicht von der Hand, bei diesem hier ist es eher so wie bei der sprichwörtlichen Katze, die um den heißen Brei herumstreicht. Die Geschichte über die Gedanken zu meinem Spender und meiner Stammzelltransplantation:

Über den Tag meiner Diagnose (Non-Hodgkin-Lymphom), eine Krebserkrankung des blutbildenden Systems ähnlich der einer Leukämie, habe ich schon häufiger geschrieben, auch über die Therapieerlebnisse danach und meine Strategien, gut durch diese herausfordernde Zeit zu kommen. Über die Gedanken zu meinem Stammzellspender, einem mir damals wildfremden Menschen, der sich entschieden hatte, sich typisieren zu lassen und mit seinem Gen-Code einem Menschen das Leben zu retten, bisher sehr wenig.

So einen Brief bekommt nicht jeder

Schon beim Schreiben dieses Intros merke ich, wie mir ganz warm wird, sich mein Hals zuschnürt und meine Augen – mal wieder – mit Tränen füllen. Da steckt so eine große Dankbarkeit in mir, die mich bisher sprachlos zurückließ. Meinem Spender Falk, den ich inzwischen kennenlernen durfte, geht es anders und doch ähnlich. Er sagte einmal: „Du kannst jemanden sagen, wenn du nach deinem bisher tollsten Moment im Leben gefragt wirst, dass du an den Niagarafällen standst oder dass du dein Abitur bestanden hast oder du mit dem Rucksack durch Thailand gewandert bist. Post von deinem Stammzellempfänger zu bekommen, zu wissen, dass dieser Mensch den Krebs besiegt hat und weiterleben darf, das ist etwas ganz anderes.“

Lebenswege treffen sich

Falk ist heute – immer noch – ein sehr junger Mann. Mit 17 hatte er sich für die Typisierung entscheiden und mit 18 Jahren dann an mich gespendet. Das war 2017. Ich selbst war 2017 gerade 51 Jahre alt geworden, als sich Falks und mein Leben trafen. Eigentlich war ich schon happy gewesen, meinen 50. Geburtstag, vor dem ich vor meiner Erkrankung so eine große Angst gehabt hatte, feiern zu können. Meine Kerze war da schon reichlich runter gebrannt, mir war meine Situation sehr bewusst.

Nella Rausch

Hiobsbotschaften und ein großes Wunder

Die Suche nach einer Therapie, die mich am Leben halten sollte, gestaltete sich schwieriger als von den Ärzten gedacht. Die Standardtherapie griff nicht, aus einer ausgewählten und erfolgversprechenden Studie flog ich raus. Ich und meine Behandler erlebten eine medizinische Niederlage, eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Der Mut der Verzweiflung veranlasste das Ärzteteam eine Therapie einzusetzen, die zwar geprüft, aber noch nicht zugelassen war. Die erreichte unverhofft eine komplette Abschwächung der Symptome und damit eine enorme Stabilisierung meines Zustandes. Der Krebs war zurückgedrängt, ich war krebsfrei. Das Wunder, an das alle geglaubt hatten, war eingetreten.

„Das auch noch!“

Als mir die Ärzte offenbarten: „Um das bisherige Therapieergebnis abzusichern, raten wir Ihnen unbedingt zu einer Fremd-Stammzelltransplantation“, wurde mir schwarz vor Augen. Chaos im Kopf. Oh, nein! Das war genau das, was ich niemals wollte. Die Berichte, die mich darüber bisher erreicht hatten, waren bei mir unter dem Titel „Besser nicht nachmachen“ verbucht. Dazu gehörte unter anderem die Nachricht über den Tod eines sehr bekannten FDP-Politikers (Guido Westerwelle), der ein Jahr zuvor (2016) die ganze Republik erschüttert hatte. Er war doch nach seiner Transplantation, über die er auch ein Buch veröffentlicht hat, auf einem guten Weg gewesen. So dachte ich und so dachten viele. Er war sogar schon wieder in einer Talkshow aufgetreten, an deren Ausstrahlung ich mich noch sehr gut erinnerte.

„Wir haben zwei!“

Gut, eine große Wahl hatte ich nicht, wenn ich meinen Ärzten Glauben schenken sollte – und das tat ich, ohne Frage. Wieder eine Entscheidung, die alles Bisherige in den Schatten stellte. Ich gab grünes Licht. Jetzt musste „nur noch“ ein Spender gefunden werden. Meine beiden jüngeren Schwestern passten nicht. Wieder ein Rückschlag. Die fieberhafte Suche ging in die nächste Stufe. Dann die Wende: “Wir haben zwei, wir haben ZWEI!“ Mein Arzt flog mir mit einem Blatt Papier in der Hand wedelnd entgegen, sein weißer Kittel hatte Mühe mit ihm mitzuhalten. Er strahlte übers ganze Gesicht. „Hier steht es, Nella. Es kann los gehen!“ Seiner bisherigen Zurückhaltung einen Ruck gebend, drückte er mich kurz fest an sich und lief gleich weiter, um die frohe Kunde auch dem Professor mitzuteilen. Ich stand wie vom Glücksdonner gerührt auf dem Flur. Tränen der Erleichterung, die eigentlich hätten fließen sollen, kamen nicht. Ich war völlig perplex und regungslos stehengeblieben. Ich musste mich erst einmal sammeln und schaute dem fliegenden weißen Kittel hinterher.

Falk Perpeet (23) aus Mettmann

Fünf Jahre später

Als ich dann, fast fünf Jahre später mit meinem Stammzellspender einen Talk für meinen Podcast „Nellas Neuaufnahme“ aufnehme, kommt all das wieder hoch. Diese Mischung aus Glück und Überforderung, der Moment auf dem Flur der Charité. Ich hatte mir vorher oft darüber Gedanken gemacht, was meinen Spender veranlasst hatte, sich typisieren zu lassen. Vor allem als ich erfuhr, dass er noch so jung war. Wir beide mussten zwei Jahre warten, bis ich einen Brief mit Kontaktanfrage über die DKMS losschicken durfte. Falk, mein Spender, war mindestens so neugierig auf mich, wie ich auf ihn. Wenn nicht sogar mehr. Denn er hatte schon nach einem Jahr angefragt, ob es mir weiterhin gut ging, wie es um mich stünde. Und jetzt war es so weit und dann noch ganz offiziell, für alle hörbar, die uns lauschen wollten. Wir waren beide unfassbar aufgeregt. „Hallo Falk, hier spricht Nella. Die Aufnahme läuft.“

„Ich bin kein Held.“

Dieses Gefühl mit jemandem zu sprechen, dessen Blut zu meinem geworden ist, sich klarzumachen, was dieser Mensch für mich und meine Familie getan hat, ist übermächtig und macht mich auch jetzt in diesem Augenblick wieder ganz schwindelig. Meinen Ohren werden rot und heiß, im Kopf ist nur noch Rauschen. So ist das immer, wenn ich versuche mich zu kontrollieren, es mir aber offensichtlich nicht gelingt. Ich selbst hatte mir vorher nie Gedanken über eine Typisierung gemacht, Spenderin zu sein. Das war nicht auf meinen Radar. Mein Leben war voll mit so viel Anderem. Familie, Beruf, Freunde, Sport, Reisen, Kunst und Kultur. Im Trampelpfad des Alltags war für diese Überlegungen kein Platz. Ein latent schlechtes Gewissen überfällt mich deshalb jetzt wieder. Es wäre doch so einfach gewesen. Warum habe ich nie darüber nachgedacht? Eine große Demut überkommt mich.

Der Spendenaufruf

Wie so oft braucht es dafür eben einen konkreten, einen emotional aufgeladenen Anlass. So war es auch bei Falk. Diese Erkenntnis versöhnt mich dann wieder mit mir. Der Beginn unserer „genetischen Zwillingsschaft“ war ein Spendenaufruf in seiner Heimatstadt, das war 2017, an dem sich auch seine Schule beteiligt hatte. Die an einer Leukämie erkrankte Mutter eines Bekannten brauchte dringend einen passsenden Spender und so folgten er und seine ganze Familie, fast die ganze Stadt, diesem Aufruf und ließ sich registrieren.

Der Anruf der DKMS

Nur fast sechs Monate später wurde Falk, der damals 18-jährige, von der DKMS auf der Autobahn angerufen und aufgefordert erst einmal rechts ranzufahren, um in Ruhe zurückzurufen. Das tat er. Ob er denn noch dazu bereit wäre zu spenden, wurde er gleich gefragt. Denn es gäbe da einen Krebspatienten, der eine 100-prozentige Übereinstimmung mit ihm hätte und dringend seine Stammzellen bräuchte. „Ich war so aufgeregt und konnte nicht mehr weiterfahren. Meine Freundin hat dann das Steuer übernommen.“ Rotäugig schauen wir uns via Zoom an, als er von dieser Szene berichtet und ich quasi, wie in einer Zeitreise in die Vergangenheit, einem Blick in die Glaskugel sehe, wie er am Straßenrand steht und telefoniert.

Das Foto geht unter die Haut

Die ganze Dimension dieses Entschlusses, der auf der Autobahn erneuert wurde, wurde noch greifbarer für mich, als ich DAS Foto von ihm bekam, das den für mich so wichtigen Zeitpunkt festhielt. Das Bild, dass ihn zeigt, wie er auf der Liege liegt, mir seine Stammzellen spendet und dabei glücklich in die Kamera lächelt. Die Tränen kullern mir dabei jedes Mal aufs Neue übers Gesicht. Der Akt der Transplantation selbst war im Vergleich zur Vorgeschichte äußerst unspektakulär und dennoch nicht mehr und nicht weniger als die entscheidende Weichenstellung für Teil zwei meines Lebens. Ein Beutel an einem Infusionsständer, mehr nicht.

Falk bei der Stammzellentnahme

„Kriminelle Fakten“

Als ich bei einem Nachsorgetermin meinen Arzt fragte, was denn das Spezielle daran ist, dass meinen Stammzellen von einem Mann und nicht, wie ich zunächst dachte, von einer Frau gespendet wurden, erklärte mir dieser, dass ich neben dem Glück einen besonders „jungen Cocktail“ bekommen zu haben, jetzt auch den „perfekten“ Mord begehen könne. „Ihre Blutgruppe ist erstens eine andere und zweitens eben die eines Mannes. Auf Sie als Frau würde keiner der Ermittler kommen. Am Tatort gäbe es keine Hinweise auf eine weibliche Täterin.“

Was uns außerdem verbindet

Neben dieser kriminalistisch interessanten Besonderheit unserer Verbindung gibt es noch einiges, was durchaus Gänsehautpotential hat. Wir kommen beide aus Nordrhein-Westfalen. Falk ist dort geboren worden, wo die Bäckerei und die Gaststätte der Urgroßeltern meines Mannes aufgebaut wurde und meine Großtante einige Jahre lebte. Falk ist sehr sportlich. Tennisspielen und Ausdauersport machen wir beide gern. Außerdem ist er neugierig und ungeduldig, wie ich auch. Der einzige Nachteil: Seit der Transplantation kann ich keinen Fisch mehr essen, was mich sehr betrübt. Eine ähnlich geartete Unverträglichkeit hat Falk aber nicht, das haben wir schon geklärt. Es muss also an etwas anderem liegen.

Mehr als ein kitschiger Taschentuchmoment

Die emotionalste Sache habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Falks Eltern, seine Mutter im Besonderen, sind genauso alt, wie ich. Als wir darüber sprechen, haut er fast beiläufig diesen Satz raus, der im Grunde alles sagt: „Es hätte ja auch meine Mutter sein können, die meine Stammzellen braucht.“ Dass diese Feststellung eben doch mehr war als ein zauberhaft-kitschiger Taschentuchmoment, wir beide ihn deswegen auch mit einem kräftigen Atemzug in der Tonspur kommentieren und eine kleine gedankenverlorene Gesprächspause einlegen müssen, wurde mir so richtig bewusst, als ich mir unser Gespräch kurz danach für den Schnitt noch einmal anhörte.

Digitales Treffen mit Falk

„Ich bin kein Held.“

Wichtig für Falk ist es zu betonen, dass es ihm überhaupt nicht angenehm ist, glorifiziert zu werden. Das Wort Held lehnt er kategorisch ab. „Ich habe doch nur meine Stammzellen gespendet, mehr nicht. Den Rest hat dein Körper gemacht.“, lautet sein Kommentar dazu. „Die Spende an sich ist keine große Sache, keine Operation oder so. Wie eine Blutspende, mehr nicht“, bekräftigt Falk zum Abschluss und ergänzt ganz ruhig und voller Überzeugung: „Ich würde es immer wieder tun.“ Schon wieder so ein Gänsehautmoment, aber auch damit kommen wir beide klar.

Das Geschenk

Dass wir beide uns so gut verstehen, ist nicht selbstverständlich. Wir haben beide extrem viel Glück gehabt, wobei mein Anteil am Glückskuchen einen erheblichen Teil größer ausfällt als Falks. Aber das spielt überhaupt keine Rolle, das habe ich inzwischen verstanden. Unser Geschenk des Lebens hat eine besondere Dimension. Wir beide denken nicht täglich darüber nach, es ist auch keine Belastung für uns. Bei mir ist es eher eine wohlige Zufriedenheit gepaart mit einem Verantwortungsgefühl für alles Künftige. Und das flüstere ich öfter in etwa so vor mich hin: „Mach was aus deinem Leben, nutze die Zeit, die dir geschenkt wurde. Am 23. Juni 2022 feiere ich zum fünften Mal meinen „zweiten Geburtstag“ und Ende Juli werden wir uns endlich live in Berlin treffen. Ich nehme jedenfalls viele Taschentücher mit und werde darüber natürlich auch in meinem Blog Zellenkarussell berichten.

Über Nella Rausch

Die 1966 in Dortmund geborene Autorin landete nach ihrem Jurastudium über einige Umwege in Berlin. Dort lernte sie ihren Ehemann kennen, mit dem sie drei Kinder hat. Berufliche Stationen: Journalistin, Werbetexterin, PR-Consultant, Prokuristin und Projektleiterin. Am 6.12.2015 erhielt sie die Diagnose Non-Hodgkin-Lymphom. Nach einer Stammzelltransplantation ist sie heute wieder gesund.

Weitere Möglichkeiten zu helfen
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