Polizei erschiesst Patrick Lyoya, Schweiz mauert Festung Europa, Amnesty bestätigt Ungleichbehandlungen

Zwei Aktivisten stellen in Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan die Erschiessung von Patrick Lyoya nach.
Zwei Aktivisten stellen in Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan die Erschiessung von Patrick Lyoya nach.

 

Was ist neu?

Patrick Lyoya in den USA von der Polizei erschossen

Am 4. April wurde Patrick Lyoya im Zuge einer Verkehrskontrolle von einem weissen Polizisten erschossen. Gut zwei Jahre nach dem Tod von George Floyd stellt sich die Frage: Hat sich denn gar nichts verändert?

Eine provisorische Gedenkstätte an der Stelle, an der Lyoya starb.
Eine provisorische Gedenkstätte an der Stelle, an der Lyoya starb.

Und schon wieder wurde eine Person of Color (PoC) von einem weissen Polizisten ermordet. Der 26-jährige Patrick Lyoya wurde in Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan bei einer Verkehrskontrolle angehalten, weil laut Polizei das Nummernschild nicht zu seinem Auto passte. Nach einem kurzen Gespräch versuchte Lyoya sich zu entfernen. Der Polizist verfolgte ihn, warf ihn zu Boden und zog im anschliessenden Gerangel seinen Taser, dessen Einsatz Lyoya jedoch abwehren konnte. Schlussendlich zog der Polizist seine Dienstwaffe und schoss dem unter ihm liegenden Lyoya von hinten in den Kopf. Der gewaltsame Tod führte umgehend zu Protesten in Grand Rapids, worauf die Polizei vier Videos veröffentlichte, welche den Einsatz dokumentieren. Auf keinem ist ersichtlich, dass der Polizist von Lyoya angegriffen wurde und in Notwehr gehandelt hätte. Der Polizist wurde vom Dienst suspendiert, die Landespolizei ermittelt nun gegen ihn.

Der Tod Lyoyas reiht sich ein in die lange Liste rassistischer Polizeigewalt in den USA. Die Ermordung George Floyds im Mai 2020 führte zu Protesten rund um den Globus. Erstmals wurde der Druck auf Politik und Sicherheitsbehörden in den USA so stark, dass sich tatsächlich strukturelle Veränderungen erhoffen liessen. US-Präsident Joe Biden konnte im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung im Wahlkampf mit seiner angekündigten Polizeireform punkten. Was ist zwei Jahre und einen weiteren Toten später davon geblieben? Bidens Polizeireform wird von den Republikaner*innen erwartungsgemäss aufs Schärfste bekämpft und dümpelt ohne tatsächliche Veränderungen vor sich hin. Auffallend ist aber, dass die Polizeibehörden in Michigan defensiver und, zumindest im Vergleich zu früheren Fällen, transparenter kommuniziert haben. Ob dies eine direkte Folge des Falls George Floyd und der daraus entstandenen Protestbewegung ist, kann nur gemutmasst werden. Es bleibt zum jetzigen Zeitpunkt darum die Hoffnung, dass der Tod Lyoyas zumindest aufgeklärt wird.

Das Grundproblem tödlicher Polizeigewalt in den USA bleibt jedoch weiterhin bestehen. Steve Stroute, der Schwarze CEO einer New Yorker Werbefirma sagte 2016 in einem Interview einen Satz, der später auch auf Plakaten an Demos auftauchte: «We live in a world where trained cops can panic and act on impulse, but untrained civilians must remain calm with a gun in their face to avoid being murdered.» (dt: “Wir leben in einer Welt, in der ausgebildete Polizist*innen in Panik geraten und impulsiv handeln können, während untrainierte Zivilist*innen mit einer Waffe im Gesicht ruhig bleiben müssen, um nicht ermordet zu werden.”) Zusammen mit dem strukturellen Rassismus und der Kriminalisierung von PoC – diese haben in den USA eine 4,7-fach höhere Inhaftierungsrate als anhand ihres Anteils an der Bevölkerung zu erwarten wäre – ergibt sich daraus eine permanente Bedrohungslage für nicht-weisse Menschen.

In den deutschsprachigen Medien fand die Erschiessung Lyoyas erst mit einiger Verspätung und nach der Veröffentlichung der Videos durch die Polizei Resonanz. Das Fallbeispiel von Spiegel online zeigt exemplarisch, mit welcher Sichtweise Redaktionen Vorfälle rassistischer Gewalt durch Sicherheitsbehörden handhaben. Auf spiegel.de wurden zwei Artikel unter der Rubrik «Panorama – Justiz und Kriminalität» veröffentlicht. Die Benennung der Rubrik klingt an sich bereits sehr fraglich. Die Einordnung von Lyoyas Tod und der darauf folgenden Proteste in diese Rubrik wirkt erst recht befremdlich. Es scheint in vielen Medienredaktionen weiterhin wenig Sensibilität für das Thema zu geben. Denn solche Todesschüsse sind eben nicht einfach «eine Tragödie», wie der Polizeichef von Grand Rapids es formulierte oder nach den Worten von Vertreter*innen der Stadt ein «sehr bedauerliches Ereignis». Sie sind Beispiele für den Umstand, das Schwarze Leben offensichtlich immer noch nicht gleich viel zählen wie weisse.

https://taz.de/Polizeigewalt-in-den-USA/!5848861/
https://www.bbc.com/news/world-us-canada-61123590
https://www.theguardian.com/us-news/2022/apr/15/patrick-lyoya-shooting-family-police-killed-execution
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/video-aus-michigan-ein-polizist-kniet-auf-einem-schwarzen-und-erschiesst-ihn-a-05bc299a-c53a-415f-9d57-0338b994eff3
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/michigan-proteste-nach-tod-von-afroamerikaner-bei-polizeieinsatz-in-michigan-a-d27fb410-c562-4816-a382-367ed706f873

Was geht ab beim Staat?

Bericht über die Schweizer Migrationsaussenpolitik – oder wie die Schweiz an der Festung Europa mitmauert

Der Bundesrat hat seinen Bericht über die Aktivitäten der schweizerischen Migrationsaussenpolitik 2021 veröffentlicht. Der Bericht thematisiert die Externalisierung der Grenzen, die Zusammenarbeit mit Frontex, die Verknüpfung von Migrationspolitik und Entwicklungszusammenarbeit, die Zunahme an Ausschaffungen etc. Was antira.org dazu zu sagen hat:

Beteiligung an Frontex

In seinem Bericht schreibt der Bundesrat, die Schweiz habe sich 2021 aktiv an der Untersuchung der Pushback-Vorwürfe gegen Frontex beteiligt: Im Verwaltungsrat würde sich die Schweiz für den Grundrechtsschutz einsetzen, zudem wurden zwei Grundrechtsexpertinnen an das Büro des Grundrechtsbeauftragten von Frontex entsandt. Das sind schöne Worte für einen Bericht, die in der Realität aber praktisch nichts bewirken: Die zahlreichen Kontrollmechanismen, die formell die Einhaltung der Grundrechte garantieren sollten, führen weder zu einer verbindlichen Rechenschaftspflicht noch zu einer effektiven Kontrolle der Arbeit an den Grenzen. Vielmehr werden sie als Feigenblätter genutzt und helfen mit, Menschenrechtsverletzungen zu verschleiern und damit zu ermöglichen.

Ausschaffungen

Im Vergleich zum Jahr 2020 haben im vergangenen Jahr 20 Prozent mehr Ausschaffungen stattgefunden. Gleichzeitig schliesst die offizielle Schweiz weitere sog. Migrationsabkommen ab, um ‘effizienter’ und ‘effektiver’ ausschaffen zu können –  z.B. nach Gambia. Mit der gambischen Regierung unterzeichneten Ignazio Cassis und Karin Keller-Sutter im Januar 2021 zwei Abkommen. In Algerien und Marokko wurden die Ausschaffungskooperationen wieder aufgenommen, nachdem die jeweiligen pandemiebedingten Grenzschliessungen aufgehoben wurden.

Externalisierung der Grenzen

Tatkräftig wirkt die offizielle Schweiz an der Externalisierung der Grenzen mit, etwa mit der Beteiligung an der sog. EU-Mission EUCAP Sahel Mali. Solche «Missionen» beinhalten die Ausbildung, Unterstützung und Beratung der lokalen Sicherheitskräfte. Ziel dabei: den lokalen Grenzschutz auszubauen, den Weg nach Europa abzuschotten. Die Sahel-Region wird von europäischen Staaten schon länger als wichtige Region für ihre Migrationspolitik angesehen. Aus ihrem jährlichen Bericht «on the Sahel Regional Action Plan» wird klar: Während die EU anerkennt, dass die Sahel-Region zu den ärmsten der Welt gehört, geht es keineswegs um die Bekämpfung der Armut, «but to have stable countries in the region, which will contribute substantially to European security and limit risks of uncontrolled migration flows.» (dt: “… sondern um stabile Länder in der Region zu haben, die wesentlich zur europäischen Sicherheit beitragen und die Risiken unkontrollierter Migrationsströme begrenzen”.”

Verknüpfung von Migrationspolitik und sog. Entwicklungszusammenarbeit

Die sog. Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz wird verstärkt mit migrationspolitischen Fragen verknüpft. Ein Beispiel aus dem Bericht des Bundesrates: Die Schweiz habe seit 2011 über 550 Millionen Franken für die in die Nachbarregionen geflohenen Syrer*innen bereitgestellt. In Jordanien, Libanon sowie der Türkei würde sich die Schweiz für bessere Lebensbedingungen der syrischen Geflüchteten einsetzen. Das Ziel dahinter wird schnell klar, schaut man auf die niedrige Anzahl an geflüchteten Menschen, welche die Schweiz aufgenommen hat: 562 sog. besonders vulnerablen Flüchtlingen, vorwiegend Syrer*innen, wurde im Rahmen des Resettlement-Programms 2020-2021 die Einreise gewährt.

Migrationsabkommen, die Verwendung finanzieller Mittel oder Grenzbeamt*innen – es bleibt die gleiche Logik: Die Schweiz und die EU leisten einen riesigen Effort, um geflüchtete Menschen von der Einreise abzuhalten.

https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/366/de
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-87903.html
https://www.sem.admin.ch/dam/sem/de/data/internationales/internat-zusarbeit/europa/ber-br-migpol-2021.pdf

Mikromilitarisierung im Bereich Minderheitenschutz

Synagogen und Moscheen erhalten vom Bund mehr Geld für repressive Sicherheit. Bis 2027 werden die Beiträge von 500’000 Franken pro Jahr auf 2,5 Millionen verfünffacht. Dabei gehe es um Minderheitenschutz gegen Terrorismus und Gewaltextremismus. Insbesondere für jüdische Gemeinschaften hätten „die antisemitischen Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie die Bedrohungslage zusätzlich verschärft“. Gemäss Nachrichtendienst (NDB) seien aber auch muslimische Einrichtungen bedroht.

Für Massnahmen wie Sicherheitspersonal steht zukünftig mehr Geld zur Verfügung.
Für Massnahmen wie Sicherheitspersonal steht zukünftig mehr Geld zur Verfügung.

2020 hat der Bund damit begonnen, religiöse Einrichtungen wie Synagogen oder Moscheen so zu subventionieren. Nun brauche es mehr Mittel, beurteilt der Bundesrat, das bisherige Budget sei ungenügend gewesen: „Zahlreiche Gesuche um Unterstützung, die den Vorgaben entsprachen, mussten deshalb abgelehnt werden.“

Was sind die Vorgaben? (1) Um an das Geld zu gelangen, reicht es nicht, eine Minderheit zu sein. Es braucht gemäss der Verordnung auch „eine gefestigte Bindung zur Schweiz und ihren Werten“, also Assimilierung. (2) Und es braucht eine überdurchschnittliche Bedrohung durch Terrorismus und gewalttätigen Extremismus. Das Nachrichtendienstgesetz definiert Terrorismus als „Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen“ und spricht von Gewaltextremismus, wenn Kreise, „die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen ablehnen und zum Erreichen ihrer Ziele Gewalttaten verüben, fördern oder befürworten“. Nazis und Faschos haben also auch in den Augen des Staates Aufwind. (3) Die Gelder sind einseitig bestimmt. Einerseits für konkrete repressive Massnahmen zur Verhinderung von Straftaten (Zäune, Mauern, Überwachung, Security) und anderseits für eher ideologische Programme zur Sensibilisierung und für Ausbildungen in den Bereichen „Risikoerkennung“, „Bedrohungsabwehr“ und „Sicherheit“.

 
 

Was ist aufgefallen?

2’500 kriminalisierte Migranten in Italien seit 2013
Am 21. Mai beginnt auf Sizilien der Vorprozess gegen die Iuventa-Crew. Während europäische Seenotretter*innen und Aktivist*innen viel mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten, wenn sie kriminalisiert werden, bleibt die alltägliche Praxis der Inhaftierung von Migranten (ausschliesslich Männer), die mit denselben Vorwürfen konfrontiert werden, fast unbemerkt. Tausende Migranten werden in Italien und Griechenland wegen angeblicher “Schleusung” und “Beihilfe zur illegalen Einwanderung” festgenommen und inhaftiert.
 
Cheikh Sene ist einer der Menschen, die für ihre Migration nach Italien kriminalisiert wurden. Er sass zwei Jahre in Haft.
Cheikh Sene ist einer der Menschen, die für ihre Migration nach Italien kriminalisiert wurden. Er sass zwei Jahre in Haft.
In Griechenland wird Beihilfe zur illegalen Einreise härter bestraft als Mord. Da gibt es den Fall von Hasan und N. Hasan wird wegen Menschenschmuggels angeklagt und mit bis zu 230 Jahren Gefängnis bedroht. Er habe ein Boot gesteuert, das im November 2020 vor Samos Schiffbruch erlitt. An Bord waren auch N. und sein Sohn, der den Schiffbruch nicht überlebte. N. wird angeklagt, weil sein 6-jähriger Sohn auf der Flucht starb – weil er sein Kind durch die Flucht in Gefahr gebracht habe. Dabei ist das Schiffsunglück weder Hasans noch N.’s Schuld. Es ist ein direktes Resultat der zunehmenden Grenzschliessungen der EU, die Menschen zwingen, ihr Leben und das ihrer Familien zu riskieren. Ihr Gerichtsverfahren ist am 18. Mai 2022.
 
Da ist der Fall von Amir und Razuli. Sie versuchten im März 2020 auf einem Schlauchboot Griechenland zu erreichen. Die griechische „Küstenwache“ griff das Boot an und versuchte es unter Gewaltanwendung zurück in türkische Gewässer zu drängen. Nachdem dies misslang, wurden Amir und Razuli festgenommen und willkürlich des „Schmuggels“ und der „Gefährdung von Menschenleben“ angeklagt sowie wegen ihrer eigenen «illegalen» Einreise. Im September 2020 wurden sie zu 50 Jahren Haft verurteilt. Ihr Berufungsverfahren wurde wegen «Überlastung des Gerichts» auf den 8. Dezember 2022 verschoben.
 
Diese Migrant*innen machen, wozu sie von der EU aufgefordert werden: Sie kommen auf europäischen Boden, in diesem Fall auf die griechischen Inseln, um ein Asylgesuch zu stellen. Das ist der normale Ablauf, in Europa überhaupt Asyl beantragen zu können. Sobald sie jedoch ankommen, werden sie genau dafür kriminalisiert. Dabei ist es typisch, dass die Menschen, die die Überfahrt organisieren und damit Geld verdienen, sich nicht selbst in Gefahr bringen und Migrant*innen dadurch gezwungen sind, das Boot zu steuern.
Die griechischen Behörden können mit der Kriminalisierung des Bootsführers oder einer beliebigen Person, die sich auf dem Boot befindet, den Erfolg ihrer Arbeit gegen Schmuggler vortäuschen. Denn: Für diese Menschen interessiert sich die Öffentlichkeit in der Regel nicht. Betroffen von dieser Kriminalisierung waren in Griechenland in den letzten Jahren 2’000 bis 3’000 Personen. Von vielen Fällen wissen wir nicht einmal.
 
Den typischen Ablauf eines Verfahrens gegen Migrant*innen schildert ein griechischer Anwalt so: Bei der Inhaftierung sieht sich eine Anwaltsperson kurz den Fall an. Nach acht bis zwölf Monaten kommt es zum Verfahren. 10 Minuten vor dem Beginn des Verfahrens sehen die Angeklagten die Anwaltsperson das erste Mal wieder. Die Verhandlungen dauern ein paar Minuten. Keine Zeug*innen, keine Beweismittel, schnelles Urteil. Von einer fairen Verhandlung, die die geltenden Gesetze beachtet, kann keine Rede sein. Das übliche Strafmass: 5-15 Jahre Haft für jede Person auf dem Boot. Bei 30 Personen ergeben sich absurde Strafmasse von über 200 Jahren. Auch wenn von dieser Haftzeit 12-20 Jahre tatsächlich abgesessen werden müssen, ist der psychische Druck eines solchen Urteils enorm. Zumal für ein Verbrechen, das keines ist und für das man nicht schuldig ist. Für ein Verbrechen ohne Opfer. Denn wer ist das Opfer, wenn Menschen auf eigenen Wunsch von Libyen nach Italien oder von der Türkei nach Griechenland befördert werden?
 
Ähnlich ist die Situation in Italien. Migrant*innen, die in Italien verhaftet werden, wird Beihilfe zur illegalen Migration vorgeworfen, ein Verbrechen, das mit bis zu 20 Jahren Haft und hohen Geldstrafen geahndet werden kann. Auch in Italien werden grundlegende Menschenrechte verletzt. Häufig sitzen Migrant*innen monatelang in Haft, ohne überhaupt den Grund zu kennen. Es fehlt an Informationen und Übersetzungen. Migrant*innen werden aufgrund äusserst schwacher Beweislagen und unzuverlässiger Zeug*innenaussagen angeklagt, die Gerichtsverhandlungen sind selten öffentlich, es gibt keinen angemessenen Zugang zu einer Rechtsverteidigung. Die Prozesse sind politisch und die Gerichte strikt. Auch in Italien finden diese Prozesse in der Annahme statt, dass sich niemand für die Menschen und die Rechtsverletzungen, die sie erfahren, interessieren wird. In vielen Haftanstalten ist es nicht möglich, ein Asylgesuch zu stellen. Daher wird aus der Untersuchungs- schnell eine Abschiebehaft.
 
Anfang April hat das Berufungsgericht in Palermo vierzehn Migranten freigesprochen, die von 2016 bis 2018 in Italien inhaftiert waren. Sie waren im Mai 2016 direkt nach ihrer Ankunft in Sizilien verhaftet und beschuldigt worden, die Boote mit Migrant*innen gesteuert und sich somit der Beihilfe zur illegalen Einreise schuldig gemacht zu haben. In einem aktuellen Bericht dokumentiert die NGO Arci Porco Rosso, dass seit 2013 in Italien mehr als 2’500 Menschen mit dem Vorwurf, ein Boot gesteuert zu haben, inhaftiert wurden.
Gruppen wie Arci Porco Rosso und Borderline Europe möchten diese systematische Kriminalisierung von Migration an die Öffentlichkeit bringen. Sie geben den Betroffenen Namen, machen auf ihre Fälle aufmerksam und stellen rechtliche Unterstützung zur Verfügung. Dabei können wir sie beispielsweise mit Spenden für den Rechtsbeistand oder mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Medienarbeit zu den einzelnen Fällen unterstützen: Freiheit für die #Samos2,  Freiheit für die vier Fussballer, Freiheit für die Moria6, Freiheit für Amir & Razuli, Freiheit für Hamza & Mohamed.
Diese politischen Prozesse funktionieren, weil der öffentliche Diskurs dem Narrativ folgt: Das Sterben auf dem Mittelmeer sei die Folge des «Menschenschmuggels». Wenn man diesen endlich unterbände, wäre das Problem gelöst. Aber wer dieses Narrativ benutzt und Menschen anklagt, die ein Boot gesteuert haben, das Menschen in Sicherheit bringen sollte, darf sich nicht länger als Verteidiger*in der Menschenrechte und erst recht nicht als Verteidiger*in von Migrant*innenrechten darstellen. Die wahren Verantwortlichen für das Sterben auf dem Mittelmeer zu benennen, die europäischen Entscheidungsträger*innen und Akteur*innen wie Frontex, ist die Grundlage für einen breiten öffentlichen Widerstand gegen diese Kriminalisierung.
 
Menschen kommen aus vielen Gründen an die Grenzen. Sie fragen dort Menschen, sie über die Grenzen zu bringen. Weil es anders nicht funktioniert. Sie werden in diesen hier besprochenen Fällen nicht gegen ihren Willen von Schmugglern aus ihren Herkunftsorten über die Grenzen geschleppt. Sie machen sich nicht wegen der Schmuggler auf den Weg nach Europa. Jeder Mensch hat einen individuellen Grund für seine Flucht oder Migration. Migration ist eine Realität, der wir nur mit sicheren Migrationsrouten gerecht werden können.
 
Nicht-ukrainische Migrant*innen erfahren in Polen Gewalt und Pushbacks
Von der Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen in Polen haben wir in der antira-Wochenschau in den letzten Wochen bereits mehrmals berichtet, doch nun zeigt ein Bericht von Amnesty International weitere Abgründe auf.
 
Menschen, die aus der Ukraine fliehen, bekommen in Polen zurzeit Solidarität und Unterstützung zugesichert, doch Menschen, die aus dem Irak, Afghanistan und Syrien über Belarus fliehen, erhalten im Gegensatz dazu eine grausame Behandlung. Vom belarussischen Diktator Lukaschenko werden diese Menschen bereits seit letztem Herbst als Druckmittel gegen die EU instrumentalisiert: Belarussische Grenzbeamt*innen bringen sie systematisch an die Grenze und zwingen ganze Gruppen mit Hunden, vorgehaltenen Waffen und unter Prügel über die Grenze nach Polen. Dort werden sie von polnischen Grenzbeamt*innen abgefangen und teilweise bis zu dreissig Mal zurück über die Grenze gedrängt. So sind viele Menschen ohne Obdach, Nahrung, Wasser oder Zugang zu medizinischer Versorgung im Grenzgebiet gefangen. Und wenn sie doch in Polen aufgenommen werden, dann werden sie in Haftanstalten gebracht.
 
Deren horrende Bedingungen kamen nun an die Öffentlichkeit: Überfüllung (bis zu 24 Menschen auf acht Quadratmetern), zu wenig Nahrung und schlechte hygienische Bedingungen sind nur der Anfang. Herabwürdigende Leibesvisitationen, rassistische Beleidigungen, zwangsweise Verabreichung von Beruhigungsmitteln, das Tasern von Menschen und die Verhängung exzessiver Strafen (wie Isolationshaft) kommen hinzu. Im Haftlager Lesznowola wurden die Inhaftierten bei ihren Nummern genannt, nicht bei ihren Namen. Das Haftlager Wędrzyn wiederum ist ein aktiver Militärstützpunkt und die ständige Geräuschkulisse von Militärübungen retraumatisiert die Menschen, die zumeist vor Krieg und Folter geflohen sind. Die meisten Menschen, mit denen Amnesty redete, berichteten von schweren psychischen Problemen wie Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Depressionen und häufigen Suizidgedanken. Wir fordern, dass die Haftlager sofort geschlossen werden und alle Menschen auf der Flucht eine faire Behandlung erhalten.
Bild: Geflüchtete stehen vor belarussischen Soldaten nahe der belarussisch-polnischen Grenze in der Region Grodno, 14. November 2021.
 

Wo gabs Widerstand?

Berner Migrationsdienst: Mit Härte gegen Stop Isolation Protest

Dank solidarischer Personen stehen für die Familien des Camps Bözingen zunehmend viele einzugsbereite Wohnungen in Biel bereit. Trotzdem blieb der kantonale Migrationsdienst hart. Er setzte die Verlegung von drei abgewiesenen Familien vom Rückkehrcamp Bözingen ins abgelegene Rückkehrcamp Enggistein durch. Ohne zusätzlichen Druck werden weitere Verlegungen folgen.

Bewohner*innen und Unterstützer*innen mit ihrer klarer Forderung.
Bewohner*innen und Unterstützer*innen mit ihrer klarer Forderung.

Von den fünf betroffenen Familien ist eine Familie vergangene Woche in eine Wohnung mit privatem Unterbringungsvertrag gezogen. Bei einer zweiten Familie steht die private Unterbringung schon länger an, doch der Migrationsdienst nimmt sich viel Zeit, die Anfrage zu prüfen und hat der Familie gedroht, sie beim SEM abzumelden, falls sich diese nicht nach Enggistein begibt. Daraufhin hat sich diese Familie bereits letzte Woche entschieden, den Transfer zu akzeptieren, um in Enggistein darauf zu warten, in einigen Tagen in die private Unterbringung zu ziehen.

Für die drei anderen Familien stand in Biel ein einzugsbereites Haus zur Verfügung. Eine dieser drei erfuhr am Wochenende, dass der Migrationsdienst vom Transfer absieht, da ein Härtefallgesuch in Bearbeitung sei. Diese Familie lebt weiterhin in Bözingen. Bei den letzten beiden Familien fehlten die formellen Verträge für die private Unterbringung im leeren Haus. Der Migrationsdienst zeigte keine Bereitschaft, diese Familien in das Haus einziehen zu lassen, obwohl sich diese bereit erklärten, täglich z.B. im Camp Bözingen ihre Anwesenheit in Biel per Unterschrift zu bezeugen, bis die private Unterbringung formell anerkannt sei. Auch diesen Familien drohte der Migrationsdienst mit einer Abmeldung beim SEM, falls sich diese nicht nach Enggistein begebe. Eine dieser Familien sah zu Recht ihren hängigen Rekurs vor Gericht gefährdet. Die zweite dieser Familien sah grosse Gefahren, dass eine Abmeldung beim SEM ein späteres Härtefallgesuch gefährden könnte. Beide Familien mussten sich diesem Druck fügen.

Um den Transfer durchzusetzen, war ein Mitarbeiter des Berner Migrationsdienstes in Bözingen vor Ort. Die betroffenen Familien erklärten ihm, dass sie endlich private Unterbringungsmöglichkeiten gefunden haben. Die formellen Verträge könnten sie kurzfristig nachliefern. Um sofort in die Wohnungen in Biel zu ziehen und den Transfer nach Enggistein zu vermeiden, schlugen sie dem Migrationsdienst vor, täglich im Camp Bözingen per Unterschrift ihre Anwesenheit zu bezeugen.

Der Migrationsdienst winkte ab und blieb hart. Familien, die bis zum Abend nicht im Camp Enggistein auftauchen, würden direkt bei dem Staatssekretariat für Migration abgemeldet. Dies hätte für die Familien verheerende Folgen. Laufende Rekurse würden abgeschrieben und anstehende Härtefallgesuche nach 10 Jahren in der Schweiz hätten bedeutend weniger Chancen. Damit hatte der Migrationsdienst das Druckmittel gefunden, um den Transfer durchzusetzen.

Die heutige Erfahrung bestätigt die Regel. Der Migrationsdienst will die abgewiesenen Familien auch nach Jahren in der Schweiz zermürben, damit diese das Land verlassen, untertauchen oder sich abschieben lassen. Das Rückkehrcamp Bözingen stand seit seiner Eröffnung unter Beschuss: Für die Bewohner*innen unmenschlich, für die NKVF menschenrechtswidrig, für Gesundheitsspezialist*innen krankmachend. In der Folge weigerte sich die Stadt Biel, den Mietvertrag für das Camp Bözingen zu erneuern. Doch statt für menschenwürdige Alternativen zu sorgen, beschloss der Kanton, die alleinstehenden Frauen und Familien mit deutsch eingeschulten Kindern – mitten im Schuljahr – im abgelegenen Enggistein zu isolieren. Dagegen protestieren die Bewohner*innen als „Stop Isolation Bözingen“ seit Wochen.

Trotz einer Petition der Bewohner*innen, einer Petition der Gruppe „Alle Menschen“, einer Demonstration und verschiedensten politischen Stellungnahmen weigert sich der Bieler Gemeinderat, würdigen Wohnraum für die rund 80 abgewiesenen Personen des Rückkehrcamps Bözingen zur Verfügung zu stellen. Dass dies problemlos möglich wäre, zeigen die fast 1’000 Plätze für geflüchtete Ukrainer*innen, die die Stadt in Windeseile fand.

Eine neue noch laufende Petition fordert, die Stadt solle „teilen statt spalten“ und die neuen Unterbringungsmöglichkeiten – z.B. das leerstehende Altersheim „Obere Ried“ nicht nur für Ukrainer*innen, sondern auch für die Geflüchteten des Camps Bözingen zugänglich zu machen. Die Stadt Biel ist mitverantwortlich! https://act.campax.org/petitions/wir-bleiben-in-biel-1

https://antira.org/2022/04/12/medienspiegel-11-april-2022/
https://www.bernerzeitung.ch/fluechtlingsfamilien-duerfen-in-boezingen-bleiben-463460034792
https://migrant-solidarity-network.ch/2022/04/11/berner-migrationsdienst-geht-mit-aller-haerte-gegen-abgewiesene-familien-vor/
https://www.derbund.ch/sie-kaempfen-unermuedlich-weiter-650616515317

Häuser von Securitas-Chefs mit Parolen verschönert

In der Nacht auf den 7. April wurden an den Hauswänden von drei Führungspersonen der Sicherheitsfirma Securitas Nachrichten hinterlassen. Die Securitas sind auch im Migrations- und Asylwesen tätig und dort immer wieder in Vorfälle von Gewalt, Missbrauch und sogar Todesfälle involviert.

Nachricht an der Hauswand von Securitas CEO Armin Berchtold.
Nachricht an der Hauswand von Securitas CEO Armin Berchtold.

In ihrem Statement schreiben die Aktivist*innen unter anderem: «Securitas ist unter anderem in Asyllagern und in Gefängnissen als Sicherheitsfirma beauftragt. Sie profitieren von diesem System, in dem Menschen weggesperrt, isoliert und verwaltet werden. Ständig gibt es wieder Berichte von Securitas-Angestellten, die Menschen in den Asyllagern verprügeln, demütigen und mitverantwortlich für ihren Tod sind. Das sind keine Einzelfälle oder Ausnahmen, es gehört zur Strategie dieses Systems, mit der Menschen klein gemacht und unten gehalten werden sollen und die Herrschaft und den Reichtum unter einigen wenigen bleiben soll. Securitas ist dafür zuständig, die momentanen Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse aufrechtzuerhalten.»

Das ganze Statement mit einer Liste von gewaltsamen Vorfällen in den letzten Jahren und weitere Bilder der Aktion gibt es auf barrikade.info/article/5107.

Was steht an?

NoFrontex-Demo
23.4.22 | 14:00 | Schützenmatte | Bern
Wir brauchen Bewegungsfreiheit für alle statt Abschottung, eine Gesellschaft der Solidarität statt Militarisierung, Rettungsboote statt Frontex. NEIN zu Frontex – auch am 23. April an der Demo in Bern.
https://www.instagram.com/p/CcC4TfCKbT3/

Diskussion und Lesung: „Die Würde des Menschen ist Abschiebbar“
24.04.22 I 18:00 Uhr I Hello Welcome Luzern

Lina Droste, Oumar Mamabarkindo, Sebastian Nitschke und /Community for all/ sind Autor*innen des kürzlich bei Edition Assemblage erschienenen Buches „Die Würde des Menschen ist Abschiebbar“. Das Buch vereint politischen Bericht und Wissenschaft. Im Rahmen des politischen Aktivismus der Autor*innen gegen die Abschiebegefängnisse in Büren und Darmstadt entstanden Texte zu Haftbedingungen, Gerichtsakten, Isolationshaft sowie Erfahrungsberichte, Portraits und Gespräche mit Inhaftierten über ihre Ausschusserfahrungen in Deutschland und ihren Herkunftsländern. Sebastian Nitschke wird kurze Passagen aus dem Buch lesen und diese im Anschluss mit dem Publikum diskutieren. Er ist Sozialarbeiter und engagierte sich von 2017 bis 2020 bei „Community for all – Solidarische Gemeinschaft statt Abschiebegefängnisse“ in Darmstadt.
https://lotte-bibliothek.org/

Veranstaltungen zur Frontex-Abstimmung
19.04.22 Öffentliche Medienkonferenz, Luzern
21.04.22 Digitale Technologien im Dienst der Migrationsabwehr, Zürich
22.04.22 Frontex und das umkämpfte europäische Grenzregime, Basel
22.04.22 Film et discussion: Shadow games, Neuchâtel
23.04.22 Demo: Grenzenlose Solidarität und Bewegungsfreiheit für alle! Bern
24.04.22 Film et discussion: Captains of Zaatari, Fribourg
26.04.22 Les enjeux féministes du régime des frontières européen et de Frontex, La Chaux-de-Fonds
27.04.22 Frontex und die EU-Abschottungspolitik – Das Beispiel Libyen, Zürich
27.04.22 Podium zur Abstimmung über den Frontex-Ausbau, Bern / St. Gallen / Thun
27.04.22 Soirée d’information et de réflexion, Neuchâtel
28.04.22 Frontex und die EU-Abschottungspolitik – Das Beispiel Libyen, Luzern
29.04.22 Frontex und die EU-Abschottungspolitik – Das Beispiel Libyen, Basel
https://frontex-referendum.ch/events/

 
 

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Antisemitismus im Dark Social
Antisemitismus hat in den vergangenen Monaten eine neue Hochkonjunktur entwickelt. Antisemitische Straftaten – online wie offline – sind seit 2015 kontinuierlich gestiegen und erreichten im Zuge der Coronakrise 2020 einen Höhepunkt. Die damit einhergehenden Verschwörungserzählungen machen deutlich, dass judenfeindliche Narrative und Botschaften nach wie vor eine Gefahr für unser demokratisches Zusammenleben sind. Dabei fungieren digitale Netzwerke und insbesondere die „blinden Flecken“ jenseits der Massenplattformen sowohl als Multiplikator für menschenfeindliches Gedankengut als auch als Radikalisierungsbeschleuniger.
https://dark-social-antisemitismus.de/
 
Stimmen aus dem Mittelmeer
Mehr als 100 Menschen sind letzte Woche im Mittelmeer ertrunken. Wir lassen Überlebende zu Wort kommen – stellvertretend für jene, die wir nicht retten konnten.
https://www.aerzte-ohne-grenzen.at/artikel/geschichten-aus-dem-mittelmeer
 
Alternative zu Frontex: „Ein Konzept der Fairness statt Gummischrot und Drohnen“
Der Nationalrat hat entschieden, die Schweiz zahlt bald mehr an die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Im Gespräch mit Simon Muster erklärt Lorenz Naegeli von Watch the Med Alarmphone, warum der Ausbau von Frontex verheerend ist – und was er von der parlamentarischen Lainken erwartet.
https://daslamm.ch/alternative-zu-frontex/
 
Überwachung der EU-Außengrenzen: Drohnen rauschen in der Luft
Migration Die EU-Außengrenzen werden immer schärfer überwacht. Nirgendwo zeigt sich die Kehrseite europäischer Flüchtlingspolitik schärfer als am Ärmelkanal
https://www.freitag.de/autoren/tobias-mueller/eu-aussengrenze-wird-immer-schaerfer-ueberwacht
It’s time to listen – voices of Refugees in Libya
On 13th April, Refugees in Libya will share our stories and bring our testimony of life in Libya and make our demands. On the 10 January, the protest held outside the UNHCR offices in Tripoli since 2nd October 2021 was dismantled by violent attacks.Today our demands still stand.
https://www.youtube.com/watch?v=nKFmTBsjFsw
 
Zwischen Kirchberg und Kiew
Gemeinden warnen vor einer Überforderung bei der Aufnahme von Ukrainer:innen. Die Geflüchteten beklagen sich über mangelnde Informationen. Ein Besuch in einem Zwischenzentrum.